Aktualisiert am 4. September 2024 von Antje Tomfohrde
Aus dem Französischen übersetzt von Kirsten Gleinig
Venedig wird irgendwann aufgrund der Folgen der Klimakrise untergehen – doch was, wenn es nicht in ein paar Jahrzehnten passiert, sondern schon bald? Isabelle Autissier spielt in ihrem Roman „Acqua Alta“ genau dieses Szenario durch.
Worum geht es in dem Roman?
Im Jahr 2021 ist Venedig von einem Acqua Alta, wie das winterliche Hochwasser dort genannt wird, überspült worden. Diese Katastrophe haben nur wenige überlebt. Guido Malegatti ist einer dieser Überlebenden. Er macht sich auf die Suche nach seiner Frau und seiner Tochter. Ob sie noch leben? Er weiß es nicht.
Das Hochwasser hatte sich schon seit Wochen durch Dauerregen angekündigt, aber Guido war davon überzeugt gewesen, dass das Sturmflutsperrwerk MO.S.E. funktionieren würde. Als Wirtschaftrat der Stadt gehörte dieser Glauben an den Schutz durch dieses technische Bollwerk quasi zu seinem Amt dazu, war es doch Teil seines Konzepts, Investoren ihre Bedenken zu nehmen.
Während Guido mit einem Motorboot durch die Ruinen navigiert, reist er in Gedanken zurück in die Vergangenheit, zu dem Moment des Zusammenbruchs der Stadt und dann immer weiter zurück. Denn – die Katastrophe in der Katastrophe ist das Auseinanderbrechen seiner Familie.
Während Guido alles dafür tut, dass in Venedig der Rubel rollt, kommt seine Tochter Léa über ihren Professor in Kontakt mit Menschen, die die Stadt vor dem Massentourismus und der Klimakrise schützen wollen.
„Das Venedig versinkt, weiß alle Welt, aber diese Vorstellung lässt ihr jetzt keine Ruhe mehr. Sie hat Zahlen dazu gefunden, wie oft das Acqua alta auftritt, seit ihrer Geburt haben sich die Hochwasserereignisse beinahe verdoppelt. Dies Tatsache nimmt für sie Gestalt an.“
– Aus „Acqua Alta“ von Isabelle Autissier
Vater und Tochter entfremden sich während der Corona-Pandemie immer mehr, die Mutter steht dazwischen, ist sie doch die „Bewahrerin“. Die Lage spitzt sich immer weiter zu…
Mein Leseeindruck von „Acqua Alta“
Was mir als erstes aufgefallen ist, als ich das Buch ausgepackt hatte, war die Nennung der Übersetzerin auf dem Cover. Das mag ich sehr, ist es doch ein Zeichen der Wertschätzung der Arbeit, die die Übersetzerin geleistet hat. Dann sieht man auf dem Titelfoto ganz verschwommen Gondeln und im Hintergrund angedeutet Venedig. Es wirkt wie ein letzter Gruß der Lagunenstadt, bevor sie versinkt.
Und so beginnt auch das Buch:
„Der Nebel steht den Ruinen gut. Er säumt die Risse im Gestein, aus dem nutzlos gewordene Stahlträger hervorragen.“
– Aus „Acqua Alta“ von Isabelle Autissier
Dann folgt der Rückblick Guidos und man bekommt nach und nach die nötigen Informationen, um zu verstehen, warum es zur Katastrophe kam. Die Trostlosigkeit, der Verlust, die Trauer um seine Familie und die verschiedenen Fronten, die sich in der kleinen Familie gebildet hatten.
Guido als der ehrgeizige Emporkömmling, seine Frau Maria, die aus einer der bedeutenden venezianischen Adelsfamilien stammt und seine Tochter Léa, die sich auf Seiten seiner Gegner stellt.
Isabelle Autissier zeichnet diese unglaubliche Katastrophe nach und schafft es, dass ich weder Guido noch seine Frau noch Léa sympathisch finde. Guido ist ein richtiger machtgeiler, geltungssüchtiger Kotzbrocken, für den seine Familie einfach zu seiner Stellung dazu gehört. Maria ist die Adelige, die alles so haben möchte wie bisher, keine Veränderung will und seltsam blass bleibt. Léa kämpft gegen die Klimakrise und den Massentourismus, allerdings ist auch sie so unglaublich extrem in ihrem Tun, ganz die Tochter ihres Vaters.
Je mehr die Familie auseinanderbricht, je mehr spitzt sich die Lage zu. Es gelingt der Autorin richtig gut, dies miteinander zu verbinden. Die Mutter als ausgleichendes Element, das aber eher eine Nebenrolle spielt, hat sie doch ihre Aufgabe erfüllt, in dem sie Guido in die richtigen Kreise gebracht hat.
„Ihre Ehe war immer mehr zu einer Vernunftbeziehung geworden, vor allem seit er im Stadtrat saß. Die Macht hatte seine Zeit und Energie beansprucht und seine Sehnsüchte bestimmt. Maria Alba war zur Begleiterin verkommen, um nicht zu sagen zum schmückenden Beiwerk.“
– Aus „Acqua Alta“ von Isabelle Autissier
Ein auf mehreren Ebenen spannendes Buch. Venedigs Kampf gegen Massentourismus und Klimakrise, zu gierige Menschen wie Guido, die nur den Profit sehen und nicht den Schaden, eine zerrüttete Familie und Hauptfiguren, mit denen ich komplett nicht warm geworden bin. Diese Tatsache tut dem ganzen aber keinen Abbruch, im Gegenteil. Es ist ein weiterer Verstärker der eigentlichen Katastrophe. Die Corona-Zeit hätte ein Chance sein können – für die Familie und für die Stadt, zeigte sie doch wie die Stadt auch sein kann. Alles fügt sich nach und nach zusammen, um dann einzustürzen.
„Die Welt, die sich verändern müsste, hat ihren trostlosen Kurs wieder aufgenommen. Der Abgrund rückt näher, und niemand schert sich darum.“
– Aus „Acqua Alta“ von Isabelle Autissier
Isabelle Autissier hat mit „Acqua Alta“ ein recht realistisches Bild vom Untergang Venedigs gemalt. Zu viele, die an der Stadt zerren und gleichzeitig mit sich selbst beschäftigt sind und auf den eigenen Vorteil schauen – „nach mir die Sintflut“ lautet das Motto. Das ist es, eine beispiellose Katastrophe und Guido als Sinnbild dafür, dass danach nicht viel daraus gelernt wird oder sich ändert.
Autorin: Isabelle Autissier
Übersetzerin: Kirsten Gleinig
Erscheinungsdatum: 20. Februar 2024
Verlag: mareverlag
ISBN: 978-3-86648-708-6
PS: Mein Buch ist ein kostenloses Rezensionsexemplar (unbezahlte Werbung), welches mir vom mareverlag zur Verfügung gestellt wurde. Hierfür bedanke ich mich ganz herzlich! Ob mir ein Buch kostenlos als Leseexemplar zur Verfügung gestellt wurde, ich es geliehen, geschenkt bekommen oder selbst gekauft habe – all dies hat keinen Einfluss auf meine Rezension. Meine Rezensionen geben allein meine Meinung wieder, die ich mir während des Lesens gebildet habe.
Ein Buch, in dem es auch darum geht, dass ganze Landstriche als Folge der Klimakrise überspült werden, ist „Und dann verschwand die Zeit“ von Jessie Greengrass. Diese Geschichte spielt in einer nicht weit entfernten Zukunft und zeigt eindrucksvoll, was passieren kann, wenn große Flächen Großbritanniens unter Wasser stehen. Jessie Greengrass geht auf die Einsamkeit der Menschen ein, die