Aktualisiert am 9. September 2024 von Antje Tomfohrde
übersetzt von Brigitte Heinrich
Lola Bensky hat ein großes Päckchen zu tragen – im mehrfachen Sinne. Und doch schafft sie es, daran nicht zu verzweifeln und sich in Teilen davon zu befreien. Lily Brett gelingt es, mit Lola Bensky eine verzweifelte, komische, einsame und doch nicht völlig unglückliche Heldin zu kreieren.
Wovon handelt das Buch?
Lola ist 19, australische Musikreporterin in London und New York und sie interviewt sie alle: Mick Jagger, Janis Joplin, Jimi Hendrix, Pete Townshend und und und. Sie hängt mit Linda McCartney ab, trifft Twiggy, leiht Cher ihre falschen Wimpern und führt wunderbare Interviews, die gänzlich anders sind als das, was die Leser*innen gewohnt sind.
Doch Lily Brett hat ihrer Titelfigur hat eine große Last mitgegeben. Ihre Eltern haben den Holocaust überlebt und sind schwer traumatisiert. Sie haben Deutschland verlassen und sind mit der kleinen Lola nach Australien ausgewandert. Diese Erlebnisse belasten das Leben der Familie. Die Mutter ist komplett darauf fixiert, dass Lola nicht zu dick ist, der Vater trägt alles mit einem ganz besonderen Humor.
„Der Raum, den den meisten Eltern für das tägliche Leben ihrer Kinder zur Verfügung stand, wurde von der Vergangenheit eingenommen. Lola sah es an ihrer Mutter. Ihre Mutter hörte sie nicht.“
– Aus „Lola Bensky“ von Lily Brett
Wir Leser*innen werden mit Lola Bensky erwachsen, durchleben Lebens- und Liebeskrisen mit ihr und ziehen mit ihr nach New York.
Wie hat mir „Lola Bensky“ gefallen?
Lily Brett hat es wieder geschafft, ein ernstes Thema mit einem leichten zu verbinden. Die wilden Sixties mit dem vererbten Trauma des Holocausts in Einklang zu bringen und es zu schaffen, dass mir als Leserin mehr als einmal ein Lächeln übers Gesicht fährt.
Das Buch enthält Teile ihrer eigenen Biographie, ist Lily Brett doch selbst das Kind von Holocaust-Überlebenden. Auch lässt sie Lola Bensky nach New York kommen, in „ihre“ Stadt. Wie sie ist Lola Musikreporterin und sie lässt sie mit den Musikgrößen der Sechziger sprechen. Wie sie es schafft, ihre Protagonistin mit Jimi Hendrix über seine Locken und seine stilvoll zusammengestellte Kleidung plaudern zu lassen und kurz drauf die Judenverfolgung des Naziregimes zu thematisieren, ist ganz große Schreibkunst – und ein wenig Unverfrorenheit, wie sie wohl nur Lily Brett ganz elegant gelingt, ohne dass es ihr übel genommen wird.
Es gibt Stellen im Buch, wo es so richtig weh tut und ich den Hut vor Lolas Eltern ziehe, dass sie es nach diesen Gräueltaten geschafft haben, sich dieses Leben in Australien aufzubauen. Wir erfahren, warum es ihrer Mutter so unglaublich wichtig ist, dass ihre Tochter schlank ist und warum es Lolas so quält, dass sie es nicht ist. Lola ist eigentlich auf Dauerdiät, ständig probiert sie eine neue aus oder plant eine neue Diät. Der Moment, in dem sie Twiggy trifft, bleibt im Gedächtnis bzw. es ist schon an einer Stelle im Buch, dass ich selbst fühlen konnte, wie Lola sich in diesem Moment fühlte. Dick zu sein, bestimmt einen großen Teil ihres Lebens, jede Handlung, jedes Essen.
„Twiggy war im Begriff, die Figur zu verändern, die Frauen sich wünschten. Eine Veränderung, die Jahrzehnte anhalten sollte und beinahe jede Frau in der entwickelten Welt dazu brachte, eine Diät zu machen.“
– Aus „Lola Bensky“ von Lily Brett
Gleichzeitig ist es so, dass wir beim Lesen Lola dabei begleiten dürfen, erwachsen und reifer zu werden oder besser ihren Heilungsprozess verfolgen können. Sie ist ein ganz angenehmer Mensch, zurückhaltend, unkonventionell auf naive Art, in einer Zeit, in der Sex, Drugs & Rock’n’Roll eine unauflösbare Symbiose bildeten.
Die inneren Kämpfe, die Lily Brett ihrer Protagonistin mitgibt, beschreiben so gut, warum Lola ist, wie sie ist und es ist erstaunlich, dass sie es so gut durchs Leben schafft mit diesem großen Paket, das sie zu tragen hat.
Meine Podcast-Buddy Valerie und ich haben das Buch als Buddyread gelesen und tauschen uns dazu in Folge 21 des Die Bücherstaplerinnen Podcasts aus. Auch unser Gespräch ist wie das Buch, an manchen Stellen können wir über diese verrückte Zeit der Swinging Sixties lachen und stellen uns Mick Jagger als ordnungsliebenden Betriebswirtschaftsstudenten vor. Kurz drauf bleibt uns das Lachen im Halse stecken, wenn wir über Lolas Eltern sprechen und was das für Lola bedeutet hat, mit diesen so stark traumatisierten Menschen aufzuwachsen.
„Lola fühlte sich von der Vergangenheit ihrer Eltern durchdrungen. Sie hatte sich schon immer so gefühlt, seit sie klein war. Sie wusste nicht, woher sie so viel wusste.“
– Aus „Lola Bensky“ von Lily Brett
Das Buch zeigt, wie sehr die nächste Generation noch das Leid der vorherigen Generation trägt und wie weit der Weg zu einem leichteren Leben ist. Lily Brett ist mit „Lola Bensky“ ein ganz wunderbarer Roman gelungen, den ich dir gerne empfehle.
Die Podcast-Folge zum Buch findest du hier.
Autorin: Lily Brett
Übersetzerin: Brigitte Heinrich
Erscheinungsdatum: 21. Oktober 2013
Verlag: Suhrkamp Verlag
ISBN: 978-3-518-46470-0
PS: Dieses Buch ist selbst gekauft und ich verlinke auf die Buchhandlung hier vor Ort in Hohenlimburg, die Hohenlimburger Buchhandlung. Dort kann auch online bestellt werden, was auf jeden Fall eine Alternative zu den großen Online-Händlern ist. #SupportYourLocalBookShop
Ob mir ein Buch kostenlos als Leseexemplar zur Verfügung gestellt wurde, ich es geliehen, geschenkt bekommen oder selbst gekauft habe – all dies hat keinen Einfluss auf meine Rezension. Meine Rezensionen geben allein meine Meinung wieder, die ich mir während des Lesens gebildet habe.
Ein weiteres Buch von Lily Brett, das ich dir empfehlen kann, ist „Chuzpe“. Ruthie hat ein Korrespondenzbüro in New York und ist ein wenig neurotisch. Eines Tages entschließt sich ihr Vater Edek aus Polen zu seiner Tochter nach New York zu ziehen. Er bringt einen ganz neuen Vibe in ihr Leben. Auch in diesem Buch geht es um das Kind Holocaust-Überlebender, New York und um eine Vater-Tochter-Beziehung.