Aktualisiert am 28. April 2025 von Antje Tomfohrde
„Drei Sommer lang Paris“, das versprach genau das richtige Buch für eine Reise nach Paris zu sein, liebe ich es doch, im Urlaub Bücher zu lesen, die auch vor Ort spielen. Und mit der 21-jährigen Ulrike hatte ich eine kundige Reiseführerin für die Stadt an der Seine gefunden. Warum? Das erzähle ich jetzt.
Wovon erzählt der Roman?
Ulrike will einfach nur raus und ihr Leben in Paris neu beginnen lassen. Im Juli 1989 macht sie sich mit der Deutschen Reichsbahn auf den Weg aus der DDR nach Paris. Zuvor hat sie sich von fast allem aus ihrem alten Leben getrennt und bricht ein neues Kapitel an.
„An Büchern nur noch jene, die von Frankreich und Paris erzählten und den dort gestrandeten Seelen, zu ich meine nun beisteuern würde.“
Aus „Drei Sommer lang Paris“ von Patricia Holland Moritz
In Paris wird sie am Bahnhof von ihrer Mutter, die dort mit ihrem Stiefvater lebt, in Empfang genommen. Sie kann bei den beiden in einem der Vororte der Stadt wohnen. Von dort wird sie die Stadt nach und nach erkunden, ihre Eindrücke mit ihrer Rolleiflex festhalten und sich Notizen machen – alles auf den Spuren der Bücher über Paris, die sie seit Jahren begleiten.
„Wohnorte. Sterbeort. Stammkneipe. Liebesnest. Was immer mir die Erzählung eines kurzen Lebens hergab, wollte ich aufsuchen. Wollte an genau dem Fleck sein, an dem der Blick eines Verlorenen ein Haus oder den Wipfel eines Baumes gestreift hatte und ich in dasselbe Stück Himmel blicken konnte wie einst die früh erloschene Seele.“
Aus „Drei Sommer lang Paris“ von Patricia Holland Moritz
Aber Ulrike ist nicht als Touristin gekommen, die sich während eines ausgedehnten Aufenthalts die Stadt anschaut. Sie will dort wirklich ankommen, hat sie doch ihr altes Leben hinter sich gelassen. Also heißt es erst einmal Französisch zu lernen und danach einen Job zu suchen in einem Land, das so ganz anders funktioniert als das bislang bekannte.
„Ich war nicht in den Westen gekommen, sondern in ein neues Leben. Das erste, das den Namen verdiente. Mein bisheriges Leben war ein Lernprozess gewesen. Ein Abgucken und Nachmachen und die Nase in die Luft halten, um herauszufinden, woher der günstigste Wind denn wehte.“
Aus „Drei Sommer lang Paris“ von Patricia Holland Moritz
Mein Leseeindruck:
Hach, was soll ich sagen? Das Buch war genau richtig für die Reise nach Paris und für danach! Konnte ich doch den Wegen Ulrikes nachspüren, war sie doch an vielen Orten, an denen meine Tochter und ich auch während unseres Aufenthalts waren. Sie hat uns ins Marais begleitet, wir waren mit ihr in Montmartre, standen gemeinsam am Eiffelturm und haben auf die Seine geblickt.
„Das ganze Angebot an jahrhundertealten Wahrzeichen, von denen Romane, Filme und Postkarten sprachen, lag ausgebreitet vor mir. Symbole menschlichen Größenwahns in den Bereichen der Technik, der Religionen und des Militärs waren nur Metrostationen entfernt. Die Stadt war ein Kinosaal, in dem ein Film in Endlosschleife lief und ich kommen und gehen konnte, wann ich wollte.“
Aus „Drei Sommer lang Paris“ von Patricia Holland Moritz
Und es war auch ein Rückblick für mich, denn Paris hat sich verändert, die Zeiten haben sich geändert. Paris ist grüner und sauberer geworden, es ist tatsächlich möglich dort gut Fahrrad zu fahren (was übrigens auch Ulrike im Buch macht). Was anders ist, ist die Stimmung heute, allerdings nicht nur in Paris. 1989 – der Fall der Mauer, es gab ganz viel Unsicherheit, aber auch eine große Aufbruchsstimmung, Deutschland war auf dem Weg der Wiedervereinigung. Damals war ich ungefähr so alt wie die Protagonistin und kann mich vermutlich so gut an dieses Gefühl erinnern. Die Luft vibrierte vor Aufregung, vor Neuanfang
Paris ist heute ein Leuchtturm, was eine Rückkehr zu einer menschengerechten Stadt angeht. Guter ÖPNV, Radinfrastruktur, die jetzt auch in den Außenbezirken und darüber hinaus ausgebaut wird, es wird ein Stadtwald angelegt und mehr und mehr Flächen wieder begrünt und autofrei. Das gibt der Stadt noch einen extra Schub Flair.
In Deutschland sieht es da anders aus und weltweit, auch in Frankreich, scheint die Stimmung gerade eher in ein Zurück-in-eine-konservative-Vergangenheit zu schwenken, also nicht vergleichbar mit der Aufbruchstimmung der Wendezeit. Das waren Gedanken, die mich während des Lesens immer mal wieder begleitet haben.
Doch dieses optimistische Gefühl mit dieser jungen Frau noch einmal zu erleben, die so völlig mutig und ein wenig unbedarft in ein ganz anderes Land aufbricht, ohne einen Pieps Französisch zu sprechen, ist ein Geschenk der Autorin an Menschen wie mich, die das erlebt haben. Aber auch an andere, um sich ein wenig an Ulrikes Optimismus laben zu können. Sie wandert aus, startet in einem neuen Staatssystem und lernt mit Feuereifer Französisch, sucht sich einen Job, saugt die Stadt förmlich in sich auf und lernt sie durch die Menschen, die sie dort trifft, kennen. Sie ist dabei, irgendwo anzukommen, was für ein schönes Gefühl!
Dabei ist sie immer auch Beobachterin von sich, ihrem Tun und dem, was in der ehemaligen DDR passiert, erlebt das Auseinanderfallen ihres Landes, in dem sie geboren wurde, bleibt in Kontakt mit denen, die dort geblieben sind und gewöhnt sich nach und nach an die neue Umgebung und das neue Leben. Sie wird das, was man unter „flügge“ versteht, ein Vogel, bereit das Elternnest zu verlassen und auf eigenen Beinen zu stehen. Auch beschreibt sie klar bzw. abgeklärt ihre Empfindungen als sie den Mauerfall realisiert.
„Allmählich spürte ich, was ich seit Stunden erwartete. Statt Freude machte sich Verbitterung darüber breit, auf einen überdimensionalen Scherz hereingefallen zu sein, wo innerhalb von Stunden in sich zusammenbrach, was jahrzehntelang als massiv präsentiert worden war. Einem einzigen großen Betrug aufgesessen zu sein. Was für eine Verschwendung an Möglichkeiten.“
Aus „Drei Sommer lang Paris“ von Patricia Holland Moritz
Besonders fasziniert hat mich die Herangehensweise von Ulrike an vieles. Sie macht Sachen nicht so nebenbei, sie ist immer zu 120 Prozent am Start. Französisch lernt sie ganz akribisch, genauso bereitet sie sich auf ihre Ausflüge in die Stadt vor, sie weiß so unglaublich über die Geschichte der Stadt und die Geschichten der berühmten Menschen, die in ihr lebten. Sie ist so aufmerksam und merkt sich die kleinen Details, die kleinen Schrullen der Menschen um sie herum und analysiert sie. Auch hat sie ein Gespür dafür, wie Menschen wirklich sind und schafft es, sie sachlich und gleichzeitig liebevoll zu beschreiben.
„Ich mochte, wie erwachsen und pragmatisch er mich behandelte. Da war kein Wort zu viel, doch jedes Wort saß und verdeutlichte mir, wie gut mich der Mann meiner Mutter kannte. Keinerlei familiäre Schnörkel in unserem Umgang miteinander, kein Einmischen in des anderen Leben, nur Verlässlichkeit und ein tiefes Gefühl gegenseitigen Respekts.“
Aus „Drei Sommer lang Paris“ von Patricia Holland Moritz
Dadurch, dass sie die Sprache nicht gut kann, passiert ihr so manches Missgeschick und sie gerät in so manche peinlich-witzige Situation, also für sie peinlich, für uns Lesende ein bisschen witzig. Sie schlägt sich so durch und entwickelt Strategien für sich, um klarzukommen mit sich und dem neuen Leben.
Es macht Freude die junge Frau auf ihrem Weg zu begleiten, zu verfolgen wie sie sicherer wird und langsam der Wunsch zu schreiben, Formen annimmt und sie ankommt in ihrem neuen Leben.
„Das Buch, das ich eines Tages schreiben würde, musste aus einem Guss entstehen, wofür die Faxrolle auf meinem Schreibtisch, um die ich täglich herumschlich, schon bereitstand. Einspannen und losschreiben. Jeden Tag tastete ich mich beim Blick auf meinen Schreibtisch etwas näher an die Idee heran, wie an ein schlafendes Tier, von dem ich befürchtete, es können jeden Moment aufwachen und nach mir schnappen.“
Aus „Drei Sommer lang Paris“ von Patricia Holland Moritz
Es ist nicht alles rosig, aber es ist gut so, wie es ist und ich mag es, dass sie zu sich findet und es sich selbst nach und nach zugesteht, liebenswert zu sein, denn auch dieses Thema verbirgt sich zwischen den Zeilen.
„In den vergangenen Jahren hatte ich mich bei jeder Gelegenheit mit Essen vollgestopft. Hatte gefuttert und mir einen Panzer um den Körper gebaut. Ohne es zu merken, kompensierte ich mit Essen, was eigentlich Selbstzweifel waren. Ob ich es wert war, dass man mich gernhatte, ob es mir jemals möglich wäre, nach eigenem Geschmack zu leben. Die Zweifel waren verflogen.“
Aus „Drei Sommer lang Paris“ von Patricia Holland Moritz
Sprachlich hat mich dieses Buch gefangen genommen, ich mochte die feinen Beobachtungen und Beschreibungen. Auch gefallen mir die vielen Verweise auf Literatur und Geschichte und die Art, wie die Autorin die einzelnen Personen von Seite zu Seite lebendiger werden lässt. Und – ganz groß – wie sie beschrieben hat, was Ulrike verstanden hat am Anfang, zum Beispiel „deh dokümong“ oder „Il ne fo pa vu depeschee. Onna dü tom.“
Ein fein erzähltes Buch, das ich gerne gelesen habe.
Zur Autorin:
In Karl-Marx-Stadt – dem heutigen Chemnitz – wurde Patricia Holland Moritz geboren. In Leipzig arbeitete sie als Buchhändlerin, verließ die DDR und arbeitete in Paris in einer Spedition. Sie studierte ein paar Semester Nordamerikanistik und war dann als Bookerin für verschiedene Bands. Sie arbeitete in Leipzig als Buchhändlerin, verließ dann die DDR und heuerte in Paris als Speditionskauffrau an. Nach einigen Semestern Nordamerikanistik wurde sie Bookerin für verschiedene Bands. Irgendwann landete sie bei einem großen Verlag und lernte das Verlagsgeschäft kennen. Neben dem Schreiben engagiert sie sich für die SPD in Berlin-Lichtenberg und dort in der Obdachlosenhilfe. Der Roman »Kaßbergen« erzählt die Vorgeschichte zu „Drei Sommer lang Paris“, ist aber für das Verständnis des Romans nicht nötig. Außer diesen beiden Romanen probiert sie sich noch in verschiedenen anderen Genres.
Autorin: Patricia Holland Moritz
Erscheinungsdatum: 12.03.2025
Verlag: Aufbau
ISBN: 978-3-351-04232-5
PS: Dieses Buch ist selbst gekauft und ich kaufe Bücher am liebsten in kleinen, inhabergeführten Buchhandlungen. Bei den meisten Buchhandlungen ist es auch möglich, online zu bestellen, sie sind also auf jeden Fall eine Alternative zu den großen Online-Shops. Online bestellen und in der Buchhandlung abholen oder direkt nach Hause liefern lassen, auch eBooks können direkt bei der Buchhandlung deiner Wahl online gekauft werden. In dem Ort, in dem ich wohne, gibt es zum Beispiel die Hohenlimburger Buchhandlung, wo ich gerne Bücher kaufe und mich über gute Beratung freue. #SupportYourLocalBookshop
Ob mir ein Buch kostenlos als Leseexemplar zur Verfügung gestellt wurde, ich es geliehen, geschenkt bekommen oder selbst gekauft habe – all dies hat keinen Einfluss auf meine Rezension. Meine Rezensionen geben allein meine Meinung wieder, die ich mir während des Lesens gebildet habe.
Wenn du Coming-of-Age-Geschichten oder Geschichten, die zur Zeit des Mauerfalls spielen, empfehle ich dir „Nur vom Weltraum aus ist die Erde blau“ von Björn Stephan. Es spielt 1994 im Plattenbau und erzählt die Geschichte des 13-jährigen Sascha, dessen Leben recht unspektakulär verläuft, bis Juri seine Klasse und damit sein Leben betritt. In „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ von Daniela Krien geht es auch um die Wendezeit, um Aufbruch, aber auch um das Ende einer Ära, Leidenschaft und Verlust. Es ist ein sehr intensives Buch. „Dings oder morgen zerfallen wir zu Staub“ von Roman Markus gibt den besonderen Vibe der 90er wieder, alles war möglich, es herrschte eine besondere Leichtigkeit und Goldgräberstimmung, eines meiner Lieblingsbücher, das ich immer gern empfehle.