Bittere Wasser von Tina Pruschmann

Auf dem Bild ist das Buch "Bittere Wasser" von Tina Pruschmann auf einer hellen, holzähnlichen Fläche. Das Bild dient als Headerbild für den Blogbeitrag.

Aktualisiert am 5. Mai 2023 von Antje Tomfohrde

„Bittere Wasser“ ist die Geschichte der Menschen und des Ortes Tann im Erzgebirge. Es ist die Geschichte des Uranabbaus, des Schicksals der Bergleute und im Besonderen, die Geschichte des Mädchens Ida, einem Zirkuskind.

Worum geht es in dem Buch?

Idas Leben beginnt damit, dass sie in eine Zirkusfamilie hineingeboren wird. Sie ist ein Zirkuskind. Ihre Eltern sind so berühmt als Artisten des DDR-Staatszirkus, dass es sogar eine Briefmarke gibt, auf der sie abgebildet sind. Das kleine Mädchen genießt die Zeit des Herumreisens, die Zeit mit der Zirkuselefantin Hollerbusch.

Doch mit Beginn von Idas Schulzeit endet diese Zeit und Ida zieht zu ihrer Oma nach Tann. Der Ort ist im Erzgebirge und liegt im Mittelpunkt des Uranabbaus. Die Bergleute kommen in die Kneipe der Oma, der Ohm, wie Ida sie nennt. Die Männer trinken dort gegen ihre Angst vor der „Schneeberger Krankheit“, einem strahlenbedingten Lungenkrebs an.

Tann liegt in der Nachmittagssonne wie ein ausgeweidetes Tier. Förderbänder zeihen unablässig taubes Gestein aus der Tiefe, laden es auf die Abraumhalden, die zwischen den Häusern wachsen und sich in Wiesen, Felder, Wälder fressen.Bittere Wasser, Tina Pruschmann

Ida verbringt ihre Jugend im Ort, gewinnt nur in Karsten einen Freund. Sie wird von den anderen nicht als eine der ihrigen angesehen, sie ist anders.

Ida hört in der Ferne die Rehböcke bellen und fragt sich, warum in ihrem Zeugnis steht, dass sie eine Einzelgängerin sei und sich nicht in das Kollektiv einfügen kann, was Kollektiv überhaupt heißen soll, sie hat doch Karsten. Karsten ist ihr Kollektiv.Bittere Wasser, Tina Pruschmann

Der Großvater stirbt und Ida hält über all die Jahre Kontakt zu Switlana, die sie in der heutigen Ukraine kennengelernt hat. Und auch wenn sie nicht dazu gehört, fühlt sie sich in ihrem Leben nicht unwohl.

Solange sich Ida erinnern kann, ist zu Hause dort, wo das orangene Licht der Lichterketten scheint, die am Kopfende ihrer Betten hängen. Sie hängen im Wohnwagen über ihrer Matratze, wenn sie die Eltern auf Tournee begleitet, sie hängen über dem Kinderbett im Wohnheimzimmer, das sie in der Winterpause des Zirkus bewohnen, und seit fünf Jahren hängen sie bei den Großeltern im Haus Edith in der Leninstraße in einem Zimmer, das Ida gehört.Bittere Wasser, Tina Pruschmann

Ida kommt in die Pubertät, erlebt eine Phase als Punk, erlebt die Wendezeit und geht danach nach Kyjiw zu Switlana, Jewhen und den Zirkuselefanten Judy und Hollerbusch, die nach dem Ende des Zirkus dorthin kommen. Sie lässt sie nicht alleine und kümmert sich im Zoo um sie – es sind ihre Seelentiere.

14 Jahre bleibt, liebt und lebt sie dort und ist immer noch fremd dort. Die DDR ist mittlerweile Geschichte, ebenso die Ehe ihrer Eltern. Sie kehrt zurück, als ihr Vater ihr schreibt, dass er es alleine nicht mehr schafft. Tann ist anders geworden, es gibt einen Golfplatz, aber auch eine kanadische Firma, die sich für „Mineralien der Zukunft“ in Tann interessiert und Ida stehen große persönliche Veränderungen bevor.

In Kyjiw konnte sie die Fremde bleiben, in Tann nicht.Bittere Wasser, Tina Pruschmann

Tina Pruschmann erzählt zwischen den Kapiteln mit Idas Geschichte die Geschichte des Ortes. Es geht um den Bergbau, eine kurze Glanzzeit als Kurort mit der stärksten Radonquelle, den Uranabbau und dessen Folgen, um die Wende und die Zeit danach.

Wie hat mir „Bittere Wasser“ gefallen?

„Bittere Wasser“ habe ich für die Klimabuchmesse 2023 gelesen, da Tina Pruschmann dort an einer der Veranstaltungen teilgenommen hat. Doch es ist so viel mehr als „nur“ ein Klimabuch. Es ist ein Buch über die Geschichte eines Ortes und der Menschen, die dort leben. Es ist Zeitgeschichte, die ich selbst erlebt habe. Der 26. April 1986, als die Welt wegen der Nuklearkatastrophe im Reaktorblock 4 des Kernkraftwerks den Atem anhielt, der Moment als die Mauer fiel, die Menschen auf dem Maidan in Kyjiv – alles Ereignisse, die innerhalb meiner eigenen Lebenszeit stattfanden und an die ich mich erinnern kann.

Und Ida fährt eine Runde und noch eine, und der Wind kommt von Ost. Er bringt den zarten Duft der Apfelblüten mit, und sie breitet die Arme aus, legt den Kopf in den Nacken, schaut, wie das frische Grün der Kastanien vorüberfliegt, und zweitausend Kilometer entfernt, im Kontrollraum einer Atomstation, haben sich die Irrtümer an den Schaltknöpfen gesammelt, und ein Reaktor ist geborsten, und er glüht himbeerfarben und bildet Kristalle, hinreißende Kristalle, wie sie nirgendwo auf der Welt existieren, und es leuchtet schön, und der Wind kommt von Ost und treibt unerbittlich Wolken übers Land, und die Spatzen in den Hecken schweigen, und Idas Lippen schmecken nach Blei an diesem sechsundzwanzigsten April neunzehnhundertsechsundachtzig.Bittere Wasser, Tina Pruschmann

Tina Pruschmann gelingt es, Zeitgeschichte mit der Geschichte von Idas Familie zu verweben. Sie erzählt dadurch das Leben der Menschen des kleinen Ortes Tann und gleichzeitig bringt sie die große Politik unter, ohne dass es künstlich erzwungen wirkt. Immer wieder lässt sie zum Beispiel die Geschichte Tschernobyls einfließen, sie schreibt, wie die „Atomstadt“ gebaut wird, sie schreibt von der Katastrophe und am Beispiel Jelenas und Jewhens von den Menschen, die dort lebten.

Auch Tann ist geprägt durch den Bergbau und geprägt durch die Angst vor der „Schneeberger Krankheit“. Es trifft ins Mark, wenn man liest, wie zur Zeit des Uranabbaus damit umgegangen wird, kalt und gefühllos. Der Mensch zählte nicht, nur das, was aus dem Berg geholt wurde.

Und als er dann da war, der Schatten auf dem Röntgenbild, haben wir genickt, als der Arzt gesagt hat, glauben Sie bloß nicht, dass der Krebs in Ihrem Fall aus dem Berg kommt, so oder so, hatte der Arzt gesagt, wären sie krank geworden, da schien er sich sehr sicher zu sein, der Arzt, denn schließlich hatte ihn die Wismut ja bezahlt.Bittere Wasser, Tina Pruschmann

Die Wismut, so nannte man die Gesellschaft, die für den Uranabbau verantwortlich war. Der einzige Abnehmer war die ehemalige UdSSR, die mit dem Uranerz 60 Prozent des Bedarfs abdeckte. (Mehr zur Wismut gibt es beim MDR)

Das obige Zitat beschreibt so treffend, wie egal alles, was lebte, die Menschen und die Natur waren. Einzig das Ergebnis zählte, einzig das abgebaute Uran. Und so zerfällt um die Wendezeit alles, was zuvor da war, Tann musste sich neu erfinden mit Golfplatz und für viele war es schwer. So auch für Idas Vater. Die DDR gab es nicht mehr und alles, was vorher sein Leben gewesen war, auch nicht mehr.

Seitdem in Tann mit den Betrieben und Bergwerken auch die Stechuhren ausgedient haben, liegt der Takt der Jahreszeiten über den Lebensregungen. Frühjahr, Sommer, Herbst, Weihnachten, Winter sind die Themen im zerklüfteten Brachland zwischen den zurückgebliebenen Abraumhalden.Bittere Wasser, Tina Pruschmann

Die einzige, die so durch den Roman fließt oder besser mit dem Einrad durch den Roman fährt, ist Ida. Immer wenn sie eine Runde gefahren ist, ist Zeit in ihrem Leben vergangen. Tina Pruschmann nutzt dieses „Ida fährt noch eine Rund und noch eine“, um die Zeit vergehen zu lassen. Es erinnert mich ein wenig daran, wie TikTokker die Hand auf die Kamera legen und danach in einer anderen Situation sind. Das ist gut gewählt, denn Ida wirkt ein wenig so, als ob sie sich treiben lässt, noch nicht weiß, wo ihr Platz ist. Jewhen stellt ihr immer wieder die Frage „Was willst du vom Leben?“

Und alle in diesem Transitraum schienen gewusst zu haben, welcher Ausgang der richtige wäre. Außer Ida. Ida war wie gemacht für dieses Dazwischen. Bittere Wasser, Tina Pruschmann

Darum geht es auch in diesem Buch, den Platz finden, zu dem man gehört. Sich nicht fortspülen lassen von der Aach, dem Fluss, der alles fort trägt.

Es ist unglaublich vielschichtig, was Tina Pruschmann mit „Bittere Wasser“ gelungen ist und auch ihre bandwurmartigen Sätze sind eine Freude beim Lesen. Auch ist es keine laute Geschichte, sondern eher eine leise Geschichte und auch das passt zum Thema, wurde es doch nie laut um den Uranabbau, hat man ihn doch eher verdeckt. Alles in allem eine runde Geschichte, sehr lesenswert!

Informationen zum Buch
Buchtitel: Bittere Wasser
Autorin: Tina Pruschmann
Verlag: Rowohlt Verlag
Erscheinungsdatum der deutschen Ausgabe: 15.11.2022
ISBN: 978-3-498-00315-9

PS: Mein Buch ist ein kostenloses Rezensionsexemplar (unbezahlte Werbung), welches vom Rowohlt Verlag zur Verfügung gestellt wurde. Herzlichen Dank hierfür! Ich durfte das Buch für die Klimabuchmesse lesen und auf der Website findet ihr eine Kurzfassung meiner Rezension. Die Klimabuchmesse 2023 fand vom 27. bis 29. April 2023 in Leipzig statt.

Am Freitag, den 28.4.2023 war Tina Pruschmann von 19 bis 20.30 Uhr, WERK 2, Halle D, Kochstr. 132, Leipzig in der Veranstaltung „Mit Literatur Natur und Klima verstehen“ dabei. Die Autorin hat mit Wolfram Günther (B90/Die GRÜNEN), stellv. sächsischer Ministerpräsident, als Umweltschützer in Sachsen vor und nach 1989, und Historikerin Sophie Lange (Universität Erfurt), die zur deutsch-deutschen Umweltgeschichte forscht, über ihr Werk und dieses Stück Zeitgeschichte diskutiert. Moderiert wurde die Veranstaltung von der Historikerin Pia Heine.

Ob mir ein Buch kostenlos als Leseexemplar zur Verfügung gestellt wurde, ich es geliehen, geschenkt bekommen oder selbst gekauft habe – all dies hat keinen Einfluss auf meine Rezension. Meine Rezensionen geben allein meine Meinung wieder, die ich mir während des Lesens gebildet habe.

Ein weiteres Stück Zeitgeschichte beschreibt Björn Stephan in „Nur vom Weltraum aus ist die Erde blau“. Hier ist die Wendezeit im Mittelpunkt des Romans.

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