Verdrängen hilft nicht – Kontur eines Lebens

Auf dem Foto ist ein eBook Reader auf einer hellen, holzähnlichen Fläche abgebildet. Das Cover des Buchs "Kontur eines Lebens" von Jaap Robben ist zu erkennen.

Aktualisiert am 4. Mai 2024 von Antje Tomfohrde

von Jaap Robben (übersetzt aus dem Niederländischen von Birgit Erdmann)

Selten hat mich ein Buch so berührt, mitgenommen, traurig und wütend gemacht wie „Kontur eines Lebens“ von Jaab Robben.

Worum geht es in „Kontur eines Lebens“?

Als ihr Mann Louis stirbt, geht die über 80-jährige Frieda in ein Pflegeheim, da sie ohne ihren Mann nicht allein zurechtkommt. Ihr Sohn Tobias und seine Freundin Nadine helfen ihr beim Umzug.

Angestoßen durch die äußeren Ereignisse beginnt es in ihr zu arbeiten, sie denkt zurück an die Zeit mit Louis, wie er sich bis zu seinem Ende um sie gekümmert hat und an ihre letzte Erinnerung an ihn:

„Ich kann an nichts anderes denken. Immerzu sehe ich die blassen Füße von Louis vor mir. Wie sie unter der Rettungsdecke hervorragen.“

Aus „Kontur eines Lebens“ von Jaap Robben

Aufgewühlt durch diesen Anblick, das Sichten der Dinge und Erinnerungsstücke und auch durch das zur Ruhe kommen im Pflegeheim, erinnert sie sich auch an die anderen Füße, deren Anblick sie ihr ganzes Leben lang nicht vergessen hat.

Bevor sie Louis heiratete und ihren Sohn Tobias zur Welt brachte, war sie schon einmal verliebt. Der elf Jahre ältere Otto war ihre erste große Liebe, fast perfekt, leider war er verheiratet und Frieda wurde schwanger. Was heute kein großes Problem mehr ist, war damals ein Skandal. Frieda hätte „Schande“ über ihre Familie gebracht, wenn sie das Kind behalten hätte, ohne verheiratet zu sein. Es gab für Frieda und Otto kein Happyend in der Konstellation Mutter, Vater, Kind.

„Otto und ich mussten also zurück in unser altes Leben, in die Zeit, bevor wir uns kannten. Nur hatte ich durch unsere Liebe kein altes Leben mehr.“

„Kontur eines Lebens“ von Jaap Robben

Wie hat mir das Buch gefallen?

Frieda muss all dies verdrängen, um mit ihrem Mann Louis ein neues Leben beginnen zu können. Nie wird sie mit ihm darüber sprechen, sie sperrt es in ihrem Innersten ein und doch kommt es unbewusst immer wieder zum Vorschein.

„Als mein Bauch sichtbar wurde, bekam ich Angstattacken. Je näher die Geburt rückte, desto öfter überfielen sie mich, aber ich glaube nicht, dass es jemand bemerkt hat. Auch Louis nicht. Im Nachhinein denke ich, dass es mir Angst machte, schwanger zu sein.“

Aus „Kontur eines Lebens“ von Jaap Robben

Es gibt unerklärliche Wutanfälle und immer wieder denkt sie an die kleinen Füße zurück, das letzte, was sie damals nach der Geburt gesehen hat.

„Aber immer, immer blieben die beiden Füßchen.“

Aus „Kontur eines Lebens“ von Jaap Robben

Frieda wühlt sich im Pflegeheim durch ihr Leben, ihr Sohn hilft ihr dabei. Sie blättert zurück und als Leser*in erfährt man immer mehr von dem, was passiert ist und was das für Frieda bedeutet haben muss. Für beide, für Otto und für Frieda, ist es traurig, dass sie beide ihr ganzes Leben lang nie offen um dieses Kind trauern durften, dessen Eltern sie offiziell niemals sein durften. Allein das hat mich schon wütend gemacht. Sie mussten beide in ihr altes Leben zurück. Für Frieda nahm es nur deshalb ein gutes Ende, weil sie allein nach Hause zu ihren Eltern zurückkehrte: „Sie ist wieder da. Allein.“

Wütend macht mich auch, dass Otto in dieser Gesellschaft weniger Schuld trägt und da denke ich mir, wie dämlich war er, dass er nicht auf den Gedanken kommt, von Anfang an zu verhüten? Frieda hatte offensichtlich noch nie eine Beziehung mit einem Mann und er war weitaus älter als sie und denkt nicht daran? Klar, er war nicht vorbereitet darauf, dass er seine Frau tatsächlich betrügen würde.

Ich finde es so unglaublich verantwortungslos und ungerecht. Frieda ist natürlich offensichtlich „schuldig“, denn irgendwann lässt sich der Bauch nicht mehr verbergen und es gibt keine Lösung für sie in der damaligen Gesellschaft, in der sie ihr Kind nicht behalten darf, ohne danach zum Bodensatz der Gesellschaft zu gehören. Und auch danach kann sie nur wieder ein „normales“ Leben beginnen, in dem sie all dies vergisst, verdrängt. Was für ein Schmerz und der muss dann verdrängt werden und darf nicht raus? Allein der Gedanke daran schmerzt. Mädchen mit solch einer Angst aufwachsen zu lassen, es ist so unglaublich ungerecht.

Mit „Kontur eines Lebens“ hat Jaap Robben ein Buch geschrieben, dass sehr nah an der Realität ist. Es gab viele Friedas und Ottos, viele Eltern, die nicht Eltern sein durften und auch nicht offen um ihre verlorenen Kindern trauern durften. Es zeigt, welch unnötiger Schmerz durch diese strengen gesellschaftlichen Regeln Menschen zugefügt wurden. Jaap Robbens hat sich beim Schreiben des Buchs von einer Psychologin beraten lassen, denn als Mann eine solche Geschichte mit den Augen einer Frau zu schreiben, ist nicht leicht. Aber es ist ihm gelungen. Und das Schöne ist, es ist ihm ohne jeglichen Pathos, ohne kitschig zu werden gelungen.

Es gibt kein glückliches Ende, aber ein realistisches und trotz allem sehr warmherziges. Der Autor hat die Kontur eines Lebens glaubhaft und liebevoll gezeichnet. Die Geschichte entwickelt sich ganz langsam und unspektakulär und von Seite zu Seite wird ein weiteres Stück des Schleiers, der über der Vergangenheit liegt, enthüllt. Zwischenzeitlich wollte ich einfach die Arme ausbreiten und Frieda in die Arme nehmen, um sie trauern zu lassen.

Jaap Robben hat mit „Kontur eines Lebens“ etwas wirklich Bewundernswertes geschaffen. Die vergessenen bzw. verdrängten Geschichten einer ganzen Generation ans Tageslicht zu holen ohne dabei voyeuristische zu sein oder romantische Ergänzungen hinzuzufügen. Eine Generation, geprägt durch die Nachkriegszeit und das Schweigen der Kriegsgeneration, deren geheime Leiden teilweise erst heute zum Vorschein kommen. Und gleichzeitig ist es ein ganz inniger Mutter-Sohn-Roman.

Informationen zum Buch
Buchtitel: Kontur eines Lebens
Autor: Jaap Robben
Übersetzerin: Birgit Erdmann
Erscheinungsdatum: 15.08.2023
Verlag: DuMont Buchverlag
ISBN: 978-3-8321-6818-6

PS: Vielen Dank an den DuMont Buchverlag, der mir über Netgalley ein kostenloses Rezensionsexemplar von „Kontur eines Lebens“ zur Verfügung gestellt hat! Und da mich das Buch so begeistert hat, habe ich bei der vom Localbookshop in Düsseldorf organisierten Lesung mit Jaap Robben mein eigenes Exemplar gekauft. Jetzt kann ich mir jedes Mal, wenn ich das Buch aufschlage, die Widmung anschauen und an diesen schönen Abend denken.

Ob mir ein Buch kostenlos als Leseexemplar zur Verfügung gestellt wurde, ich es geliehen, geschenkt bekomme oder selbst gekauft habe – all dies hat keinen Einfluss auf meine Rezension. Meine Rezensionen geben allein meine Meinung wieder, die ich mir während des Lesens gebildet habe.

„Verbrenn all meine Briefe“ von Alex Schulman könnte auch ein Buch für dich sein, wenn du sensibel geschriebene Familiengeschichten magst.

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