Aktualisiert am 31. August 2024 von Antje Tomfohrde
übersetzt von Michaela Grabinger
Ehre – was verstehen wir darunter? Bedeutet Ehre für jeden Menschen etwas anderes? Was beeinflusst den jeweiligen Ehrbegriff? Elif Shafak geht das Thema in ihrem gleichnamigen Buch auf verschiedenen Ebenen an.
Worum geht es in „Ehre“?
Die Zwillingsschwestern Jamila und Pembe werden 1945 in einem kleinen, kurdischen Dorf geboren. Ihr Start ins Leben war von Enttäuschung geprägt, kamen statt des ersehnten Jungen gleich zwei Mädchen zur Welt. Ihre Mutter gab ihnen die Namen Genug und Schicksal, wodurch von Anfang an ein Damoklesschwert über ihrem Leben hing. Auch die vom Vater ausgewählten Namen Pembe (Rosarot) und Jamila (Schön) konnten daran nichts ändern.
Äußerlich nicht zu unterscheiden, verfolgen sie völlig andere Ziele im Leben. Jamila bleibt dort, wo sie geboren wurde, während es Pembe nach London verschlägt. Doch sie bleiben miteinander verbunden, wie es wohl nur Zwillinge können.
„Zwillinge, sagte man, seien zwei Körper und eine Seele. Doch Jamila und sie waren noch mehr: ein Körper und eine Seele.“
Aus „Ehre“ von Elif Shafak
Jamila wird eine hochangesehene Hebamme, die allerdings unverheiratet bleibt, wogegen Pembe schon mit 17 Jahren ihr erstes Kind, Iskender, zur Welt bringt und mit ihrem Mann in ein anderes Land zieht. Iskender wird von Pembe auf Händen getragen, gelang es ihr doch, als erstes Kind einen Sohn zur Welt zu bringen, wohingegen ihre Mutter nur Töchter geboren hatte. Iskender wurde ihr kleiner Sultan.
In London erfüllen sich die Träume Pembes nicht. Ihr Mann Adem spielt, verfällt einer anderen Frau und es gelingt der Familie mehr schlecht als recht, sich über Wasser zu halten. Und irgendwann passiert ein großes Unheil, ein Verbrechen, das alles auf den Kopf stellt.
Mein Leseeindruck
„Ehre“ ist das nach „Unerhörte Stimmen“, „Der Bastard von Istanbul“, „Die vierzig Geheimnisse der Liebe“ und „Der Architekt des Sultans“ das fünfte Buch von Elif Shafak. Und wieder habe ich das Glück gehabt, es mit jemandem zusammen zu lesen. Mirjam (@mirisbuecherecke auf Instagram) und ich standen in täglichem Austausch beim Lesen, was auch bei diesem Buch sehr hilfreich war, wurde doch nicht nur das Thema Ehre beleuchtet, sondern auch das Thema Ehrenmord.
„Je weniger ein Mann besaß, umso größer war der Wert seiner Ehre.“
Aus „Ehre“ von Elif Shafak
Elif Shafak steigt in diesem Buch emotional tief ein und zeigt Unterschiede im Ehrbegriff auf. Es geht auch ein weiteres Mal um Aberglauben und wie sehr kulturelle bzw. gesellschaftliche Zwänge Menschen in ihrem Tun beeinflussen. Anhand der Geschichte des Buches und seiner unterschiedlichen Charaktere verdeutlicht sie es wunderbar und lässt uns tief in die Gedanken der Hauptpersonen eintauchen.
Wie anders hätte sowohl Jamilas als auch Pembes Leben verlaufen können, wären nicht die Gedanken an Schande und was Ehre ist, dazwischen gewesen. Elif Shafak erzählt eine Lebensgeschichte, die so anders hätte verlaufen können, wäre nicht die Unversehrtheit eines Mädchens wichtig für die Familienehre. Und später ist es die Treue einer verlassenen Frau, die alles entscheidend für die Ehre der Familie ist. So vieles wird von außen bestimmt, geheime Regeln oder besser nicht aufgeschriebene Gesetze, die Glück und Wehe festlegen.
„Männer besaßen Ehre. Greise, Männer mittleren Alters, ja selbst kleine Schuljungen, die noch nach der Mild ihrer Mutter rochen. Frauen besaßen keine Ehre, sie besaßen Scham.“
Aus „Ehre“ von Elif Shafak
Vieles im Buch ist kulturell geprägt, doch gibt es einen universellen Teil, in dem andere entscheiden, was richtig ist. Die Personen, um die es geht, sind schon klar in ihren Gefühlen und würden einiges im Nachhinein ändern, aber andere bestimmen, wie es weitergeht. Dazu passt der im Buch angesprochene Rassismus, von außen wird das Urteil gefällt und gehandelt, ohne zu hinterfragen. Die Autorin fügt ein geschickt gewähltes Steinchen zum anderen.
„Pembe war noch nie einem Rassisten begegnet, und die Vorstellung, man könnte einen anderen Menschen wegen seiner Hautfarbe, Religion oder sozialen Herkunft hassen, empfand sie als ähnlich absurd wie Schnee im August. Natürlich war sie hin und wieder von völlig fremden Leuten schlecht behandelt oder herabgesetzt worden, aber das war immer im Affekt geschehen – zumindest hatte sie es so wahrgenommen – und nicht aufgrund einer vorgefassten Meinung, die sie nicht beeinflussen konnte.“
Aus „Ehre“ von Elif Shafak
Elif Shafak hat mit „Ehre“ eine spannende Geschichte geschrieben, die alles beinhaltet, was ein gutes Buch ausmachen kann. Etwas Schicksalhaftes, das sich über Generationen zieht, unglückliche Liebe, starke Charaktere, zwei Handlungsorte und dann zum Schluss noch eine überraschende Wende. Ich bin über die Buchstaben geflogen und konnte es gar nicht abwarten, weiter zu lesen.
Sprachlich ist es nicht so ausschweifend wie andere ihrer Werke, sie schafft es dieses Mal umso mehr, die Leser*innen ins Buch hineinzuziehen, in die verschiedenen Köpfe, um all ihre Gedanken und ihren Anteil an der Handlung zu verstehen. Es geht um tiefe Gefühle als Eltern, als Liebende, als Kinder und um Zweifel und wie man zu sich selbst findet, wie es bei Pembes Kindern Esma, Iskender und Yunus ist.
Für mich bislang das beste Buch von Elif Shafak, also eine ganz eindeutige Leseempfehlung!
Autorin: Elif Shafak
Übersetzerin: Michaela Grabinger
Erscheinungsdatum: 13. August 2015
Verlag: Kein & Aber Verlag
ISBN: 978-3-0369-5932-0
PS: Dieses Buch ist selbst gekauft und ich verlinke auf meine Buchhandlung hier vor Ort in Hohenlimburg, die Hohenlimburger Buchhandlung. Dort kann auch online bestellt werden, was auf jeden Fall eine Alternative zu den großen Online-Händlern ist. #SupportYourLocalBookShop
Ob mir ein Buch kostenlos als Leseexemplar zur Verfügung gestellt wurde, ich es geliehen, geschenkt bekommen oder selbst gekauft habe – all dies hat keinen Einfluss auf meine Rezension. Meine Rezensionen geben allein meine Meinung wieder, die ich mir während des Lesens gebildet habe.
Falls du noch ein weiteres Buch von Elif Shafak lesen möchtest, empfehle ich dir „Unerhörte Stimmen“. Das Buch hat mich so begeistert, dass ich seitdem versuche, all ihre Werke zu lesen. Vielleicht geht es dir ja ähnlich.