Aktualisiert am 20. August 2023 von Antje Tomfohrde
„Wut“ ist der Debütroman des Journalisten und Aktivisten Raphael Thelen. Wann schlägt das Gefühl, in den eigenen Sorgen nicht ernst genommen zu werden, von Verzweiflung in Wut um? Was kann Wut bewirken?
Worum geht es in dem Roman?
Und wieder ist die Gruppe von Klimaaktivist*innen um Vallie, Sara, Lisa, Robert und Wassim auf den Straßen Berlins unterwegs und demonstriert – alles schön geordnet, nett, freundlich, gesprächsbereit. Es ist ein heißer, schwüler Tag, eines der mittlerweile typischen Unwetter, die meist Leben kosten, ist vorhergesagt.
Plötzlich war da dieser Gedanke, es heute einmal anders verlaufen zu lassen, es eskalieren zu lassen. Die DE, ein Energiekonzern, der per Urteil dazu verpflichtet worden war, die Emissionen innerhalb von Jahren zu halbieren, hatte bekanntgegeben, ins Ausland abzuwandern. Der Tropfen, der dem Fass noch zum Überlaufen gefehlt hatte.
Diese Demo verlief anders als all die anderen Demos zuvor. Ein Teil der Demonstrierenden stürmt die DE-Zentrale, der andere Teil läuft weiter. Wie wird es ausgehen?
Meine Meinung zum Buch
Wer jetzt denkt, „Wut“ ist nur ein Buch über Klimaaktivist*innen, die eskalieren, irrt. Es geht viel weiter und erzählt verschiedene Geschichten auf unterschiedlichen Ebenen. Natürlich ist es eine Geschichte, die vermutlich recht nah an der Realität der Klimabewegung ist. Menschen, die einfach immer unter Strom stehen, weil sie sich komplett dafür einsetzen, dass wenigstens das 1,5-Grad-Ziel eingehalten wird und fassungslos sind, weil so wenig getan wird. Menschen, die ausbrennen, so wie die Erzählerin Vallie und ihre Freundin Sara:
Es ist Verzweiflung spürbar und an diesem Tag geht diese Verzweiflung in Wut über und die Situation eskaliert. Die Aufgaben sind klar verteilt: Vallie ist der denkende Kopf, Sara die Emotionale, Wassim ein weiterer Denker, Lisa die Organisierende, die die PR-Frau und Robert eskaliert noch einmal ganz anders.
Sie stehen stellvertretend für die vielen Aktivist*innen, die in unserer Leistungsgesellschaft großgeworden sind, die aufgrund ihrer Herkunft diskriminiert werden und es trotzdem im System schaffen wollten und sogar viel erreicht haben, studiert haben, im Sport erfolgreich waren und irgendwann merkten, dass mit dem System etwas nicht stimmt. Ein System, in dem nur Leistung zählt. Gleichzeitig durften sie ihrer Wut keinen freien Lauf lassen, sondern immer nett bleiben, angepasst.
Raphael Thelen beschreibt die Kämpfe, die seine Hauptfiguren in sich selbst auszufechten haben und wie sie so wurden, wie sie sind. Er beleuchtet ihre Ängste, warum sie sich in der Klimabewegung engagieren und zeigt auch ihre innere Zerrissenheit, zum Beispiel wie es um die Beziehung von Vallie und Sara steht. Es geht weit zurück in die Kindheit und wie sie geprägt wurden.
Und so wird auch klar, wie sich diese Generation irgendwann politisch engagierte und warum sie das tat. Sie erlebten ein unglaubliches Gemeinschaftsgefühl und dann diese unglaubliche Enttäuschung, dass es nur Worthülsen waren und es keinen Klimaschutz gibt, sobald die Freiheit der Wirtschaft gefährdet war.
So weit hat der Roman ganz viel mit der Realität zu tun und könnte vermutlich auch ein Bericht sein, warum viele in der Klimabewegung so verzweifelt, müde und wütend sind. Dann gelingt Raphael Thelen der Twist zu einem filmreifen Finale. Wie es am Ende mit der Demo ausgeht, kann ich allerdings jetzt nicht verraten, aber Hollywood hätte diese Szene nicht besser drehen können.
Zum Schluss gibt es noch eine Utopie, die so vermutlich niemals eintreten wird, aber allein der Gedanke, dass die Welt nicht in einem Mad-Max-Szenario enden wird, tut gut. Es ist ein Roman, es reicht schon, dass die Verzweiflung, die Diskriminierung so echt rüberkommen!
Sprachlich und dramaturgisch hat das Buch einiges zu bieten, minimalistisch formuliert und dann wieder üppig in der Sprache wie ein Bild von Rubens:
Auch hat er das Buch nicht aus einer männlichen Perspektive erzählt, sondern aus der Warte von Vallie, was ihm ganz gut gelungen ist. Was ich ihm hoch anrechne ist, dass er eine kontextbezogene Sexszene integriert hat. Bekanntlich nerven mich Sexszenen in Büchern, die keinen anderen Sinn haben als das Buch mit einer Sexszene anzureichern, das ist hier nicht so.
„Wut“ gelingt ein Spagat zwischen Realität und Utopie, es macht den Frust der Klimabewegung deutlich, die Verzweiflung und Wut der Generation Klima. Junge Menschen, die immer weiter kämpfen und denen zu wenig zugehört wird, die zu wenig ernst genommen werden in ihren Zukunftsängsten. Das alles hat Raphael Thelen in eine spannende Geschichte mit interessanten Nebenschauplätzen gegossen, die wie ein Video mit schnellen Schnitten erzählt wird und ruhig ein bisschen länger als 168 Seiten hätte sein dürfen.
Autor: Raphael Thelen
Erscheinungsdatum: 17. August 2023
Verlag: Arche Verlag
ISBN: 978-3-7160-0005-2
PS: Mein Buch ist ein kostenloses Rezensionsexemplar (unbezahlte Werbung), welches mir vom Arche Verlag zur Verfügung gestellt wurde. Herzlichen Dank hierfür! Ob mir ein Buch kostenlos als Leseexemplar zur Verfügung gestellt wurde, ich es geliehen, geschenkt bekommen oder selbst gekauft habe – all dies hat keinen Einfluss auf meine Rezension. Meine Rezensionen geben allein meine Meinung wieder, die ich mir während des Lesens gebildet habe.
Wenn du an einem weiteren Roman, der die Klimakrise thematisiert, interessiert bist, empfehle ich dir „Und dann verschwand die Zeit“ von Jessie Greengrass. Ein Buch, dass den Umgang mit Klimaangst, Klimawut und Klimagefühlen im Ganzen behandelt, ist „Klimagefühle“ von Lea Dohm und Mareike Schulze.