Aktualisiert am 26. Mai 2025 von Antje Tomfohrde
Sich erinnern, um neu anzufangen. Vielleicht ist das die kürzeste Inhaltsangabe von „Kirschholz und alte Gefühle“ von Marica Bodrožić. Als ich in der Buchhandlung stand und das Buch aufschlug, wusste ich gar nicht genau, worum es geht, mir hatten nur die ersten Sätze, die ich gelesen hatte, so gut gefallen, dass ich das Buch mitnahm.
Wovon handelt „Kirschholz und alte Gefühle“?
Sieben Tage im Leben von Arjeta Filipo und doch sind es fast vierzig Jahre, die dieser Roman erzählt.
Arjeta ist umgezogen, viele Male schon. Es ging von Sarajevo nach Paris zu Onkel und Tante, dann zu einer Freundin, später zu Arik und schließlich nach Berlin, wo sie jetzt in ihre dritte Wohnung eingezogen ist. Die Konstanten, die sie auf dieser Odyssee begleiten, sind ihre kleinen Aussetzer, nach denen sie sich an nichts erinnern kann, und der alte Kirschholztisch ihrer Großmutter. Dieser Tisch begleitete erst ihre Tante und ihren Onkel nach Paris und ging dann auf sie über.
„Er macht mich glücklich. Wenn er ein Gedächtnis hat und meine Theorie aus der Kindheit stimmt, muss ich ihn nur an einer Stelle mit dem Messer anritzen. Dann wird das Kirschholz bluten und erzählen, wird mit allem herausrücken, mit allem, was der Baum in den letzten hundert Jahren gehört und gesehen hat.“
Aus „Kirschholz und alte Gefühle“ von Marica Bodrožić
Wir begleiten sie in eine Reise in die Vergangenheit, in ihre Erinnerungen.
„Ich bin zum Studieren nach Paris gegangen, aber nicht weil ich es geplant habe, sondern weil ich bald schon keine andere Wahl hatte.“
Aus „Kirschholz und alte Gefühle“ von Marica Bodrožić
Mit dem Beginn des Jugoslawienkriegs ändert sich alles für sie und ihre Familie. Sie verliert ihre Brüder und zieht nach Paris, wohingegen ihre Eltern in der Heimat bleiben. In Paris beginnt sie – wie schon vor dem Krieg geplant – ihr Philosophiestudium und lernt dort irgendwann den Maler Arik kennen. Doch diese Liebesbeziehung ist keine, die sie glücklich macht oder ankommen lässt.
Sie verlässt Paris und zieht nach Berlin zu ihrer Freundin Nadeschda.
Und nun sitzt sie an diesem Tisch aus Kirschholz und erinnert anhand der Fotos aus den Plastiktüten, die ihre Mutter ihr bei einem Besuch mitgebracht hat, ihr Leben und versucht Klarheit und Ordnung in die Vergangenheit zu bringen.
„Die Fotos von damals sind mir heute nicht zufällig in die Hände gefallen. Es ist mein erster Tag in den neuen Räumen, und ich habe das Gefühl, dass die alten Magneten in meiner Erinnerung sich selbsttätig ins Spiel bringen.“
Aus „Kirschholz und alte Gefühle“ von Marica Bodrožić
Wie hat mir der Roman gefallen?
Was für ein schöner Roman! Mein erster Eindruck vom Buch hat mich nicht getäuscht, ich frage mich eher, warum ich dieses Buch erst jetzt gelesen habe? Wie bezaubernd kann Sprache sein bzw. wie gut kann ein Mensch mit Sprache umgehen und eine Geschichte, in der Krieg, Verlust und Flucht vorkommen, so poetisch erzählen?
„Wir hätten uns vorher nie vorstellen können, dass ein Mensch, der mitten unter uns, in unserer Stadt gelebt hatte, genau diese Stadt, die auch einst seine Stadt war, von den umliegenden Bergen beschießen könnte.“
Aus „Kirschholz und alte Gefühle“ von Marica Bodrožić
Marica Bodrožić kann das. Sie hat mich von der ersten Seite an in die Erinnerungen von Arjeta gezogen. Arjeta, die nach einer langen Odyssee in ihrer frisch bezogenen Wohnung sitzt und ihr Leben Revue passieren lässt, die Bruchstücke zu einem Ganzen zusammensetzt. Allerdings schützt die poetische Sprache nicht vor dem, was hinter den schönen Worten steht. Die Tiefe der Trauer, der Unsäglichkeit des Todes der Brüder, die Bedeutung von Arjetas Erinnerungslücken, das Nicht-Ankommen, das Im-Dazwischen-Sein, das sie im Gegensatz zu denen, die woanders hingezogen sind, immer noch hat.
„Anfangs schrieben wir uns alle, aber dann hörte es auf und alle Briefe blieben fast zeitgleich aus. Ich wunderte mich darüber und deutete es solange als Treulosigkeit, bis ich verstand, dass die Anderen jetzt, da sie nicht mehr schrieben, in ihrem neuen Leben angekommen sein mussten.“
Aus „Kirschholz und alte Gefühle“ von Marica Bodrožić
An jedem Tag, den sie in der neuen Wohnung ist, räumt sie weitere Kisten mit Tagebüchern und Fotos aus und wir erfahren dabei mehr über sie. Es geht um die Anfangszeit in Paris, wie sie bei Hiromi einzieht, Nadeschda kennenlernt und schließlich Arik. Mit Arik hat sie eine Liebesbeziehung, die definitiv nicht auf Augenhöhe ist. Sie ist durch Distanzphasen geprägt und sie kann erst sehr spät von ihm lassen. Und da merkt man ihren Schmerz, auch wenn der Moment so gefühllos wirkt. Oder besser, dass sie zu diesem Zeitpunkt so gefühllos ist, zeigt, wie es ihr geht.
Trotz allem wirkt Arjeta nicht rastlos, nicht fortdauernd auf der Suche, sondern eher ein wenig fremdgesteuert, so als ob sie noch den Moment braucht, in dem sie sagen kann, dass sie jetzt selbst das Steuer übernehmen kann.
„Das neue Leben wartet nicht in der Vergangenheit. Die Zeit, sie ist eine Kofferträgerin, eine Freundin also, dieses Mal. Der Weg führt ins Ungewisse.“
Aus „Kirschholz und alte Gefühle“ von Marica Bodrožić
In den Momenten mit Hiromi, ihrer Mitbewohnerin in Paris, wirkt sie ganz leicht und ausgeglichen, so bei sich. Genauso mit Nadeschda und Mischa Weisband. Das sind feste Beziehungen, Freundschaften, die sie hat und die sie stützen. Die Beziehung zu Arik empfand ich als unangenehmen und es ist mir und vermutlich auch Arjeta immer noch nicht ganz klar, warum sie überhaupt mit ihm zusammen war.
„Aber je mehr ich meine Loslösung von ihm ersehnte, desto stärker wuchs in mir der Wunsch, ihn zu berühren, besonders dann, wenn ich an seine Hände dachte. Meine Sehnsucht war ein selbsttätiger Magnet, sie zwang mich, zu ihm zurückzukehren.“
Aus „Kirschholz und alte Gefühle“ von Marica Bodrožić
Das Buch ist vielschichtig, es gibt Erzählstränge, die nebenbei erwähnt werden und trotzdem eine Bedeutung haben. So erzählt sie von ihrer Mutter, die sie als kleines Mädchen immer wie eine Puppe angezogen, präsentiert und fotografiert hat. Es erinnerte ein wenig an so Mom-Influencerinnen, nur dass es damals noch kein Social Media gab. Dann geht es zwischendurch in die Geschichte der Großmutter, die aus Deutschland stammt und wie Arjeta sich diesen Wurzeln nicht so ganz nähern möchte. Und es geht viel um Sprache, die die sie neu lernt und die die sie teilweise vergisst, es sind auch Erinnerungen, die damit überschrieben werden.
Es gibt immer mal wieder Schatten der Vergangenheit, die erwähnt werden, aber dann weiterlaufen. Sie haben etwas von den Rissen, wie sie ihre Gedächtnisaussetzer bezeichnet, sie sind kurz da und dann wieder weg. Mich hat diese Sprunghaftigkeit der Gedanken gefesselt, denn es ist ja genau so, wenn wir nachdenken. Es wird nicht eine Gedanke komplett zu Ende gedacht, bevor ein neuer Gedanke gedacht wird, sondern die Gedanken fließen ineinander und so fließt auch bei Arjeta ein Gedanke in den anderen.
Man merkt die Zerrissenheit und gleichzeitig den Wunsch, endlich anzukommen und der Autorin ist das so gut gelungen, diese einzelnen Zustände und Emotionen einzufangen. Die Aussetzer kündigen sich meist an, wie ein Vogel, der an ihrem Kopf pickt und sie verspürt großen Druck, der gelöst wird, indem sie kurz „weg“ ist. Vergessen als Selbstschutz und um wirklich anzukommen, muss sie sich erinnern.
Ich bin so froh, dass ich dieses Buch entdeckt habe.
„Es war mir nie genug, dass ich bin, wie ich bin, ich wollte immer wissen, was der Grund dafür war. Ich wollte mich ändern, um der Mensch zu werden, der ich schon immer gewesen bin, aber ich wusste nichts über mich.“
Aus „Kirschholz und alte Gefühle“ von Marica Bodrožić
Zur Autorin:
Marica Bodrožić ist Jahrgang 1973 und wurde im Hinterland von Split in Dalmatien geboren. Nach Hessen kam sie im Jahr 1983. Sie schreibt Gedichte, Romane, Erzählungen und Essays, die in über sechzehn Sprachen übersetzt wurden. Sie wurde unter anderem mit dem Walter-Hasenclever-Literaturpreis, dem Manès-Sperber-Literaturpreis für ihr Gesamtwerk und dem Irmtraud-Morgner-Preis ausgezeichnet. Als freie Schriftstellerin lebt sie in Berlin und in einem kleinen Dorf in Mecklenburg-Vorpommern.
Autorin: Marica Bodrožić
Erscheinungsdatum: 08.09.2014
Verlag: btb
ISBN: 978-3-442-74752-8
PS: Dieses Buch ist selbst gekauft und ich kaufe Bücher am liebsten in kleinen, inhabergeführten Buchhandlungen. Bei den meisten Buchhandlungen ist es auch möglich, online zu bestellen, sie sind also auf jeden Fall eine Alternative zu den großen Online-Shops. Online bestellen und in der Buchhandlung abholen oder direkt nach Hause liefern lassen, auch eBooks können direkt bei der Buchhandlung deiner Wahl online gekauft werden. Dieses Buch habe ich in Berlin in der Buchhandlung Kohlhaas & Co. gekauft. Es ist die Buchhandlung im Literaturhaus Berlin. Am besten erst dort frühstücken oder einen Kaffee trinken und dann dort in der Buchhandlung stöbern. Ab 2026 ist das wieder möglich, bis dahin wird das Literaturhaus Berlin renoviert. #SupportYourLocalBookshop
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