Eine ganze Welt von Goldie Goldbloom

Buchcover "Eine ganze Welt" von Goldie Goldblum

Aktualisiert am 21. März 2021 von Antje Tomfohrde

Surie Eckstein ist 57, vielfache Mutter und Großmutter und schwanger. Dies bringt ihr bisheriges Leben komplett durcheinander, zumal sie sich niemandem in der chassidischen Gemeinde von Brooklyn anvertrauen mag. Ein innerer Kampf mit sich und der Welt, wie sie sie bislang wahrgenommen hat, beginnt.

Wovon handelt das Buch?

„Eine ganze Welt“ spielt in Brooklyn, in Williamsburg, wo die chassidische Gemeinde, zu der auch Surie Eckstein gehört, beheimatet ist. Es ist eine ganz eigene Welt, mit eigenen Regeln. Eines Tages entdeckt Surie, dass sie schwanger ist. Nichts Ungewöhnliches möchte man denken, doch Surie ist 57, mehrfache Mutter, Großmutter und bald Urgroßmutter. Sie hatte längst gedacht, dass dies nicht mehr passieren könnte. Bei der ersten Untersuchung im Krankenhaus erfährt sie, dass sie Zwillingen erwartet.

In diesem Augenblick beginnt Surie eine Reise in ihr Inneres. Sie traut sich nicht, sich irgendwem in ihrer Familie anzuvertrauen, noch nicht einmal ihrem Ehemann Yidel, ihrem „ersten Preis in der Ehelotterie“. Einzig die Hebamme Val wird ihr eine Vertraute, so etwas wie eine Freundin. Surie hatte ihre Menopause als Fakt betrachtet und war sich sicher gewesen, dass sie nicht mehr schwanger werden konnte. Solch eine Fall ist mehr als selten und sie hat Angst davor, was die Menschen in ihrer Gemeinde von ihr denken werden, wenn sie es erfahren. Was wird es für Auswirkungen auf sie und vor allem auf ihre Kinder haben? Sie hat Angst eine Außenseiterin in ihrer orthodoxen Gemeinschaft zu sein, da schon der Tod ihres Sohns Lipas vor einigen Jahren Aufsehen erregt hatte.

Gott sei Dank kenne ich meinen Platz in der Welt. Die Thora spricht von vielen Dingen, aber immer, immer spricht sie von den Kindern, die kommen, den Kindern, für die man Opfer bringen muss. Mein ganzes Leben ist Kindern gewidmet, Kinder zu kriegen, Kinder großzuziehen.<span class="su-quote-cite">Goldie Goldbloom, Eine ganze Welt</span>

Surie stellt sich nicht nur der Frage, ob sie in ihrem Alter noch einmal Mutter werden möchte, sondern auch der Frage, ob ihr bisheriges Leben so richtig war, wie es bisher gewesen ist. Sie fängt an, Dinge anders zu machen und hat außer ihrer Schwangerschaft noch ein weiteres Geheimnis. Sie fängt an, der Hebamme Val im Krankenhaus zu helfen und übersetzt für andere Frauen, die nur Jiddisch, aber kein Englisch sprechen und lernt nach und nach immer mehr und kommt heraus aus ihrem bisherigen Leben. Es erfüllt sie mit etwas, was sie bis dahin nicht hatte, das Lernen bereitet ihr Freude.

Gleichzeitig steht natürlich ihre Familie und ihre Gemeinde für sie über allem und dies führt dazu, dass sie einen inneren Kampf bestreitet. Sind alle Regeln, denen sie folgt, wirklich so wichtig, dass sie keine Ausnahme zulassen und wie wird ihr Leben werden, wenn die Zwillinge da sind? Wo führt Suries Weg hin? Goldie Goldbloom beschreibt diese Reise Suries in ihr Innerstes.

Wie hat mir „Eine ganze Welt“ gefallen?

Die Nachricht, mit 57 noch einmal schwanger zu sein und dann auch noch mit Zwillingen, kommt in Surie Ecksteins Leben wie ein Tsunami. Sie hat die Welle schon einige Zeit kommen sehen bzw. die ersten Anzeichen gespürt und ist dennoch am Strand geblieben und hat ihren Alltag gelebt. Schließlich hatte sie mit dem Thema abgeschlossen, seit Jahren nicht mehr menstruiert und war sich sicher, sich einfach in ihrem Leben als Großmutter und zukünftige Urgroßmutter einrichten zu können. Und dann kam diese Nachricht, die für sie alles auf den Kopf stellte. Eine Nachricht, die sie so mitnimmt, dass sie sie noch nicht einmal ihrem Ehemann anvertrauen kann und auch diese Tatsache lastet schwer auf ihr.

Der tiefe Wunsch, ihm von den Zwillingen zu erzählen, erfüllte sie wie Wasser einen ins Spülbecken gehaltenen Becher, doch noch immer sagte sie nichts. Zwei Wünsche drehten sich in ihr umeinander, es auszusprechen und stumm zu bleiben.<span class="su-quote-cite">Goldie Goldbloom, Eine ganze Welt</span>

Da Surie in einer jüdisch-orthodoxen Gemeinschaft lebt, besteht ihr Leben aus anderen Regeln als das unsrige hier. Es gibt viele Regeln, die den Tagesablauf und das gemeinsame Zusammenleben bestimmen. Es fängt mit der Kleidung an, das Essen, wer welche Tätigkeiten ausführen darf und bestimmt ganz stark die Rolle des Einzelnen in der Gemeinschaft. Ehevermittler sorgen dafür, dass die Kinder die richtigen Partner finden und dem Rang in der Gemeinde entsprechend verheiratet werden. Verfehlungen einzelner in der Familie können Auswirkungen auf die ganze Familie haben, so dass Surie befürchtet, dass ihre späte Schwangerschaft Auswirkungen auf die Partien ihrer noch unverheirateten Kinder und Enkelkinder haben kann, denn diese Schwangerschaft deutet ja an, dass Surie und ihr Mann Yidel immer noch bestimmte Dinge miteinander tun.

Unter Berücksichtigung dieses besonderen Hintergrunds wiegt die Aussicht auf Zwillinge mit 57 noch einmal schwerer, als sie sowieso schon wiegen würde. In diesem Alter noch einmal Mutter zu werden, ist vermutlich für jede Frau eine ganz besondere Situation. Gedanken, ob man überhaupt fit genug ist, noch einmal zwei Kinder großzuziehen und ihnen auch gerecht zu werden, ob man überhaupt alt genug wird, um sie erwachsen werden zu sehen, schwirren da durch den Kopf. Bei Surie kommen noch andere Faktoren hinzu, der Tod eines ihrer Söhne kommt wieder ins Bewußtsein, da sie den Tod dieses Kindes noch nicht verarbeitet hat. Außerdem lernt sie im Krankenhaus, angeleitet durch ihre Hebamme Val eine ganz andere Welt und ein Wissen kennen, das ihr keine Angst mehr macht, sondern Freude. Auch lernt sie über das Schicksal eines jungen Mädchens aus der Gemeinde etwas über ihre Gemeinde, was sie zweifeln lässt.

Goldie Goldbloom nimmt uns Leser:innen mit auf den Weg ins Innere ihrer Protagonistin Surie und bringt uns diese unbekannte Welt näher, die Regeln, aber auch den starken familiären Zusammenhalt und den Zusammenhalt in der chassidischen Gemeinde. Sie zeigt, dass Surie beides möchte, in der Gemeinde und in ihrer Familie verankert sein und doch ein paar Dinge anders machen, als das von ihr erwartet wird. Surie ist hin und hergerissen zwischen dem traditionellen Leben und ihren Gedanken, die an der Richtigkeit dieses Lebens zweifeln. Mit liebevollen Beschreibungen der einzelnen Personen und Situationen gelingt es Goldie Goldbloom, einen Einblick in einen fremden Mikrokosmos zu geben.

Suries Gedanken und Gefühle waren mir ganz nah während des Lesens, ich habe mit ihr gezweifelt, gehadert und auch geweint. Dieses Buch hat mich ganz tief berührt und es ist der Autorin gelungen, eine ganz stimmige Geschichte zu erzählen. Es gibt kurz vor Schluss eine Stelle, wo ich kurz dachte, dass die Handlung jetzt eine Wendung bekommt, die nicht realistisch ist, aber da hatte ich Goldie Goldbloom für einen kurzen Moment falsch eingeschätzt. Denn es gelingt ihr, ein für die Geschichte schlüssiges Ende zu erzählen. „Eine ganze Welt“ ist ein ganz liebevoll erzähltes Buch, das ich vom ersten bis zum letzten Satz wunderschön fand, auch wenn es an manchen Stellen sehr traurig ist. Eine Leseempfehlung für diejenigen, die eher die „stillen“ Bücher mögen!

Informationen zum Buch
Buchtitel: Eine ganze Welt
Autorin: Goldie Goldbloom
Übersetzerin: Anette Grube
Verlag: Hoffmann und Campe
Erschienen: 2021
ISBN: 978-3-455-00901-9

Mein Buch ist ein kostenloses Rezensionsexemplar, welches mir vom Hoffmann und Campe Verlag zur Verfügung gestellt wurde, wofür ich mich herzlich bedanke!

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