Zurück – Halbinsel von Kristine Bilkau

Auf dem Bild ist das Buchcover des Romans Halbinsel von Kristine Bilkau auf einer hellen, holzähnlichen Fläche abgebildet. Es ist das Header-Bild der Rezension des Buchs.

Aktualisiert am 21. April 2025 von Antje Tomfohrde

Sobald Kristine Bilkau ein neues Buch geschrieben hat, will ich es lesen. So ging es auch mit „Halbinsel“, dem neuen Roman der Autorin, der pünktlich zur Leipziger Buchmesse 2025 erschien.

Worum geht es in dem Roman?

Anett bekommt Ende Mai einen Anruf einer Klinik in Neubrandenburg. Ihre Tochter Linn hatte während eines Vortrags auf einer Tagung einen Schwächeanfall erlitten. Die Mutter setzt sofort alles in Bewegung, um zu ihrer Tochter zu reisen, bucht eine Zugfahrt und bringt den Hund bei den neuen Nachbarn unter.

„Als ich um das Bett herumging, sah ich das Hämatom an ihrer Stirn, seitlich, die Schwellung war fast so groß wie ein Handteller. Den Kopf hatte sie etwas zur Seite geneigt, den Handrücken an die Wange gelegt, den kleinen Finger abgespreizt, ihr langer, geflochtener Zopf begann sich aufzulösen. An diesem Ausdruck im Schlaf, es war das Versunkensein und das Vertrauen, hatte ich mich schon früher nicht sattsehen können.“

Aus „Halbinsel“ von Kristine Bilkau

Linn kommt mit zu ihrer Mutter, um sich zu erholen. Sie fährt irgendwann zurück nach Berlin, kehrt jedoch schnell wieder zurück in den Ort, in dem ihre Mutter lebt. Ihr ist alles zu viel und sie möchte eine Pause. Für Anett ist das eine ganz neue Seite an ihrer Tochter.

„Nie hatte sie mich um Hilfe gebeten, nie unentschlossen oder verzagt gewirkt, sie schien zu wissen, wohin sie wollte, sie war förmlich hinausgeprescht in die Welt. Nun schien jede kleine Frage, die ich ihr stellte, anstrengend für sie zu sein. Es war, als würde ich vor einem verschlossenen Haus stehen, an Türen und Fenstern klopfen, doch nirgendwo ließ sich etwas öffnen.“

Aus „Halbinsel“ von Kristine Bilkau

Linn hat sich von einem sehr jungen Alter an für den Klimaschutz eingesetzt, ist nach dem Abitur los, um sich in Rumänien und Schweden als Umweltvoluntärin zu engagieren. Nach dem Studium hat sie eine Stelle gefunden, die scheinbar zu ihr und ihrem Kampf gegen die Klimakrise passte. Doch nun ist sie innerlich leer und bei ihrer Mutter in einem kleinen Ort in der Nähe von Husum, um über sich und ihr Leben nachzudenken.

Es wird schwierig für die beiden, zumal Anett auch in einer Phase ist, in der sie vieles überdenkt. Die neue Situation wird eine Belastungsprobe für die Mutter-Tochter-Beziehung.

Wie hat mir „Halbinsel“ gefallen?

Kristine Bilkau erzählt mit „Halbinsel“ eine dichte Geschichte, die zum einen eines der wichtigsten Themen unserer Zeit, die Klimakrise, streift, und die Wachstumsschmerzen einer Mutter-Tochter-Beziehung beschreibt, eingebettet in die wohltuend ruhige Landschaft des norddeutschen Wattenmeers.

Diese ruhige Landschaft wirkt wie ein Gegenpol zu den inneren Kämpfen der beiden Frauen. Beide arbeiten sich an sich selbst und ihren Erinnerungen und Lebenserfahrungen ab, beide geben sie im Lauf der Erzählung Kontrolle ab und öffnen sich. Spannend ist, dass der Großteil des Romans im Kopf von Anett, der Mutter und Erzählerin stattfindet.

Anett hat Linn nach dem Tod des Vaters allein großgezogen, musste immer aufs Geld achten und hatte wenig Unterstützung. Linn war recht pflegeleicht und zielorientiert. Jetzt wird all das noch einmal auf den Prüfstand gestellt, denn Anett war sehr beschützend, nicht nur in Bezug auf Linn. Es geht bei beiden Frauen um die großen Fragen oder die eine große Frage, wo sie hinwollen mit ihrem Leben, ihren Hoffnungen, ihren Enttäuschungen.

Linn ist ein Beispiel für so viele ihrer Generation, die versuchen, gegen die Klimakrise anzukämpfen und ausbrennen. Intelligent, enthusiastisch, engagiert und gut ausgebildet versuchen sie die Welt zu ändern und scheitern am System bzw. an den Menschen, denen der kurze Profit und Greenwashing wichtiger ist als ein ernsthafter Systemwechsel.

Anett überlegt, was das Leben noch für sie an guten Überraschungen bereit hält. Will sie in dem kleinen Ort, der voller Erinnerungen ist, bleiben? Der Zusammenbruch ihrer Tochter und ihr Wieder-Einzug im alten Zuhause bringt so manches an Tageslicht, das viele Jahre im Keller der Erinnerungen verborgen war.

„Der Inhalt dieser Kartons war ein Fundus dieser Vergangenheit. So vieles das ich seit langer Zeit nicht angerührt hatte.“

Aus „Halbinsel“ von Kristine Bilkau

Und hier spielt Kristine Bilkau ihre große Stärke aus. Sie formuliert so klare Sätze, die die Gedankenwelt von Anett spiegeln. Sie nimmt uns mit in die Ängste, als Mutter nicht zu genügen, nicht über die Runden zu kommen und in die Trauer um Johan, der einfach viel zu früh gestorben ist und den sie in Gedanken nie ganz losgelassen hat. Sie zieht Bilanz und muss sich entscheiden, wo sie ab jetzt hin will als Mutter und als Anett.

„Wie sehr ich mein Leben heruntergedimmt habe in den vergangenen Jahren, denke ich nun. Wie hatte mir das passieren können? Ich stehe auf, atme einmal tief durch und frage mich, was ich am liebsten tun würde, ich, heute, jetzt.“

Aus „Halbinsel“ von Kristine Bilkau

Als Linn beginnt, in den Kisten aus dem Keller zu graben und auch Anett mit vielem Unerzähltem, Unausgesprochenem, Unerinnertem konfrontiert, lösen sich auch in Anett die Bänder, die vieles von ihr ferngehalten haben.

„Beschützen oder Kontrolle. Ich hielt den Atem an, weil ich mich davor fürchtete, was sie als Nächstes sagen würde, und weil ich zugleich genau das hoffte, alles, was sie belastete und beschäftigte, endlich offen und ehrlich von ihr zu hören.“

Aus „Halbinsel“ von Kristine Bilkau

Verstärkt wird dieses Aufarbeiten der Vergangenheit durch die Wattwanderungen, die sie unternehmen. Auch dort finden sich Stücke aus der Zeit vor der großen Flut, die die Landschaft völlig verändert hat und Ortschaften hat versinken lassen. Ein Pferd verschwindet und ist wie ein Sinnbild für das, was war und worüber die beiden noch sprechen müssen, was aber nur immer mal aus der Ferne auftaucht.

Diese Wanderungen haben auch ein wenig die Funktion des Durchlüftens der Gedanken. Draußen in der Natur, mit den Gedanken allein, auch wenn es eine größere Gruppe ist. Etwas zusammen unternehmen und trotzdem in Gedanken ganz weit weg voneinander und der Lebensrealität der anderen.

Es gibt Zweifel auf beiden Seiten, zwischendurch kippt die Stimmung immer mal wieder zwischen den Frauen durch das Ungesagte und Unverständnis füreinander. Anett projiziert ihre eigenen Zweifel auf ihre Tochter, schließlich wollte auch sie einmal etwas anderes vom Leben, fühlte sich auf der Durchreise und blieb dann in diesem kleinen Ort, was sie sich bei ihrer Tochter oder für sie nicht vorstellen mag oder kann. Kristine Bilkau schafft es, diese feinen Stimmungen mit gut durchdachten Sätzen zu zeichnen.

Es ging mir bei „Halbinsel“ mal wieder so, dass ich einerseits weiterlesen wollte, um zu erfahren, wie sich die Beziehung von Mutter und Tochter entwickelt, andererseits konnte ich nicht genug bekommen von den Bilkauschen Sätzen. Der Roman spiegelt eine Geschichte, die so passieren könnte und skizziert so schön die Tiefen der Beziehung und zeigt auch, wie sich die Menschen, die versuchen, die Klimakrise aufzuhalten und mehr zu tun als Jutetaschen statt Plastik zu nutzen, daran aufreiben. Kristine Bilkau schafft es, ein gesellschaftlich wichtiges aktuelles Thema in einen Roman einzubetten ohne dabei den Zeigefinger zu erheben.

Es ist eine Erzählung vom Abschied, vom Erwachsenwerden einer Mutter-Tochter-Beziehung und vom Loslassen – ganz großartig erzählt.

„In dem Augenblick wusste ich, dass mir dieser Vormittag, dieser kleine Besuch in der Bäckerei in Erinnerung bleiben würde, dass das einer dieser unzähligen Momente war, nach denen ich mich eines Tages sehnen würde. Weil er für etwas stand, für diese Zeit, diese Wochen zwischen Ende Mai und Mitte September, für diesen Sommer mit Linn.“

Aus „Halbinsel“ von Kristine Bilkau

Zur Autorin:

Kristine Bilkau wurde 1974 in Hamburg geboren, wo sie heute mit ihrer Familie lebt. Sie studierte Sie studierte Geschichte, Amerikanistik und Neuere deutsche Literatur in Hamburg und New Orleans und arbeitet als Schriftstellerin und Journalistin. Ihr Debütroman „Die Glücklichen“ wurde wurde mit dem Franz-Tumler-Preis, dem Klaus-Michael-Kühne-Preis und dem Hamburger Förderpreis für Literatur ausgezeichnet. Der Roman „Nebenan“ stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises und „Halbinsel“ wurde mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2025 ausgezeichnet.

Informationen zum Buch
Buchtitel: Halbinsel
Autorin: Kristine Bilkau
Erscheinungsdatum: 19.03.2025
Verlag: Luchterhand Literaturverlag
ISBN: 978-3-630-87730-3

PS: Mein Buch ist ein kostenloses Leseexemplar, das mir über das Bloggerportal vom Luchterhand Literaturverlag zur Verfügung gestellt wurde. Hierfür bedanke ich mich ganz herzlich! Ob mir ein Buch kostenlos als Leseexemplar zur Verfügung gestellt wurde, ich es geliehen, geschenkt bekommen oder selbst gekauft habe – all dies hat keinen Einfluss auf meine Rezension. Meine Rezensionen geben allein meine Meinung wieder, die ich mir während des Lesens gebildet habe.

Kristine Bilkau ist eine meiner absoluten Lieblingsautorinnen und ich freue mich auf jedes neue Buch von ihr, ich fiebere den Büchern geradezu entgegen. „Eine Liebe, in Gedanken“ war das erste Buch von ihr, das ich gelesen habe. Es war als Monatsbuch in der schon oft erwähnten Bücherbar, dem virtuellen Buchtreff von Mareike Lüken, ausgewählt worden und für mich das Buch, mit dem ich mich in ihre Wortkunst verliebt habe.

Ihren Debütroman „Die Glücklichen“ habe ich dann als zweites Werk von ihr gelesen bzw. eher Wort für Wort genossen, gefolgt von „Nebenan“. In „Wasserzeiten“ schreibt sie über das Schwimmen und warum sie es so mag, definitiv eine Leidenschaft, die wir miteinander teilen. Es mag dich jetzt nicht überraschen, aber ich empfehle dir all ihre Bücher, die mich alle begeistert haben.

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