Lenin auf Schalke von Gregor Sander

Das Buch Lenin auf Schalke

Aktualisiert am 11. Juli 2022 von Antje Tomfohrde

Wie viel Osten steckt im Westen?

Die Betrachtung geht immer nur von Westen nach Osten. Zeit dies zu ändern, findet Schlüppi und schickt seinen Kumpel in den Westen. Aber nicht irgendwohin, sondern dorthin, wo es weh tut, nach Gelsenkirchen. Aus der „Stadt der tausend Feuer“ ist mittlerweile eine arme Stadt geworden. Arbeitslosigkeit prägt das Stadtbild. Wie viel Osten gibt es so tief im Westen zu entdecken? Auf diese Spurensuche begibt sich Gregor Sander mit „Lenin auf Schalke“.

Worum geht es bei „Lenin auf Schalke“?

Das Buch beginnt mit einer Zugfahrt Richtung Gelsenkirchen, genauer gesagt, zwischen Hannover und Bielefeld und vier Flaschen Bier: Krombacher, Paderborner, Veltins und Dortmunder Union. Die hatte Schlüppi seinem Freund als Reiseproviant mit auf den Weg gegeben.

Ich weiß nichts über Gelsenkirchen, außer dass es im Ruhrgebiet liegt, dass es da also Bergbau gab, Kokereien, Stahlwerke. Dass Gelsenkirchen so etwas war wie die Herzkammer der alten Bundesrepublik. <span class="su-quote-cite">Lenin auf Schalke, Gregor Sander</span>

Und ein bisschen zu viel Bier hat überhaupt erst zu dieser Situation geführt. Schlüppi, der beste Kumpel, hat irgendwann gegen Morgen nach einem durstigen Abend die Idee gehabt, dass es an der Zeit ist, mal zu untersuchen, wie viel Osten im Westen steckt und nicht immer nur in den Wunden Ostdeutschland herumstochern zu lassen, sondern auch mal schauen, was es Neues im Westen gibt. Und Sander war in Schlüppis Augen der richtige Mann für diesen Job, als Autor und als Ostdeutscher. So fand sich dieser auf dem Weg in eine der ärmsten Städte des Westens mit besagten vier Flaschen Bier als Proviant.

Und natürlich wird die Flasche Veltins bei Einfahrt in den Gelsenkirchner Hauptbahnhof noch schnell weg gezischt. Dort wird er von Zonengabi abgeholt. Gabi ist Schlüppis Cousine und wohnt mit ihrem Kerl Ömer, seines Zeichens Trinkhallenbesitzer, in einem alten Bergmannshaus, wo Sander während seines Aufenthalts untergebracht ist.

So macht sich der Autor also auf Spurensuche. Wo ist das alte Gelsenkirchen, das, dass durch die Kohle reich wurde und wohin ist es verschwunden? Wie ticken die Menschen dort? Was sind die Unterschiede zu den traurig ausschauenden Oststädten? Was hat der Niedergang von der Stadt der tausend Feuer zu einer durch Arbeitslosigkeit geprägten Stadt mit Gelsenkirchen gemacht? Und warum wird in Gelsenkirchen eine Leninstatue eingeweiht, also Lenin auf Schalke? Und er wird auch grundsätzlich, denn eine Sache eint und entzweit die Republik schon seit ihrer „Erfindung“:

Er heißt pflichtschuldig Zur Scharfen Ecke und es gibt hier natürlich diese Wabbelwurst mit roter Soße und manch anderes frittierte tote Tier. An dieser Stelle muss ich grundsätzlich werden, denn warum ganz Deutschland feuchte Augen bekommt, wenn es um die Currywurst geht, ist mir wirklich noch nie aufgegangen.<span class="su-quote-cite">Lenin auf Schalke, Gregor Sander</span>

Wie hat mir das Buch gefallen?

Was sich so lustig anhört, ist auch humorvoll geschrieben. Allerdings ist der ernste Hintergrund durchaus zu lesen und Sander nähert sich dem „Pott“ bzw. Gelsenkirchen so, dass bei allem Spaß am Wort der Respekt vor den Menschen und der Lage vor Ort bleibt. Er beschreibt in „Lenin auf Schalke“ viele Klischees, aber sowohl im Osten als auch im Westen und trifft in meinen Augen genau den richtigen Ton, um sich dem Thema anzunähern. Denn die Menschen im Ruhrgebiet sind hart im Nehmen und immer für einen guten Spruch zu haben.

Den Spieß einmal umzudrehen und zu schauen, wie der Westen mit Strukturwandel umgeht, ist eine gute Idee, denn in der Tat werden solche Reportagen nur über Oststädte, die schon deutlich bessere Tage gesehen haben, geschrieben. Aber es gibt diese Städte auch im Westen der Republik und vergleichbare Entwicklungen.

Es werden Zeiten verherrlicht, die zwar im wirklichen und im übertragenen Sinne viel Kohle gebracht haben, aber gar nicht immer so herrlich waren. Denn, wenn man sein Leben in einer Zeche verbracht hat, war man mit Eintritt ins Rentenalter nicht mehr topfit.

Ömer ist die Figur im Buch, die bei aller Pottverklärtheit, an der auch er stark leidet, immer wieder den Finger in bestimmte Wunden legt. So beschreibt er, wie es um die eigene Integration steht bzw. erklärt zum Beispiel das, was allgemein unter „Deutsch-Türke“ verstanden wird und was wirklich seine Heimat ist. Dieser Teil mutet lustig an, ist aber für mich einer der besonders ernsten Abschnitte des Buches.

Aber Ömer will keine anderen Geschichten hören, will nichts wissen von dem Leben jenseits der Mauer, will in seiner eigenen untergegangenen Welt bleiben.<span class="su-quote-cite">Lenin auf Schalke, Gregor Sander</span>

Als Schlüppi dann nach Gelsenkirchen kommt, nimmt die ganze Geschichte noch einmal Fahrt auf und nach den vorher eher sachlichen Recherchearbeiten geht ans Eingemachte und in die Kneipen bzw. nicht. Wenn der eine Teil des Gelsenkirchner Herzens aus Kohle besteht, ist der andere Teil der dort ansässige Fußballverein, Schalke 04. Auch hier nähert sich Gregor Sander mit Respekt und Ironie und passenderweise geht es auf „Das Schalke-Fan-Feld“ (dies sind 1904 Grabstätten).

Die Schalker Meile ist nur achthundert Meter lang, wenn es hochkommt. Und sie liegt in Schalke, nicht auf Schalke, sondern in dem Stadtviertel, das dem Verein und irgendwie der ganzen Stadt den Namen aufgedrückt hat. <span class="su-quote-cite">Lenin auf Schalke, Gregor Sander</span>

Insgesamt hat mir das Buch sehr gut gefallen, ich habe streckenweise schallend gelacht, zum einen, weil es so komisch war und zum anderen, weil es teilweise einfach stimmt. Dieser raue, aber herzliche Ton der Menschen dort und die Verehrung der Königsblauen, die schon mit der Muttermilch aufgesogen wird. Gleichzeitig wird aber auch der Verfall sehr gut beschrieben, die Hoffnungslosigkeit über den bislang nicht gelingenden Strukturwandel und auch der bedenkliche Rechtsrutsch bei Wahlen.

Hier führte früher eine kleine Werkseisenbahn von Essen vor zur Erzbahntrasse, die wiederum nach Bochum führte. Heute ist davon nichts mehr zu sehen, nur eben Günther und Hildegard auf ihren Mountainbikes, die figur- und frisurmäßig fast gleich aussehen, Menschen der Kompaktklasse in schwarzer Radlerhose und rosa Shirt. <span class="su-quote-cite">Lenin auf Schalke, Gregor Sander</span>

Gregor Sander findet die Stellen, an denen es weh tut, die traurig sind und gleichzeitig nicht ohne eine gewisse Ironie betrachtet werden können. So ist der Schalker Markt, auf dem alles begann mit dem großen S04, heute eine Parkplatz. Ömer ist natürlich stolzer Büdchenbesitzer, denn das Ruhrgebiet ohne Büdchen geht nicht. Auch die Ostseite in ihm kommt nicht zu kurz und so ist es bei allem Witz und aller Ironie ein Buch über Identität.

„Lenin auf Schalke“ ist ein kurzweiliges Buch, sehr gut und unterhaltsam geschrieben und es bringt den Osten und den Westen ein wenig näher zusammen, denn so weit sind wir gar nicht voneinander entfernt.

Informationen zum Buch
Buchtitel: Lenin auf Schalke
Autorin: Gregor Sander
Verlag: Penguin Verlag
Erschienen: 14. März 2022
ISBN: 978-3-328-60187-6

PS: Mein Buch ist ein kostenloses Leseexemplar, das mir über das Bloggerportal vom Penguin Verlag zur Verfügung gestellt wurde. Hierfür bedanke ich mich herzlich! Ob mir ein Buch kostenlos als Leseexemplar zur Verfügung gestellt wurde, ich es geliehen, geschenkt bekommen oder selbst gekauft habe – all dies hat keinen Einfluss auf meine Rezension. Meine Rezensionen geben allein meine Meinung wieder, die ich mir während des Lesens gebildet habe.

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