Aktualisiert am 1. November 2024 von Antje Tomfohrde
übersetzt aus dem Französischen von Norma Cassau
„Ein Sommerabend“ von Cécilie Tlili hatte ich für die Podcast-Folge Urlaubsbücher Sommer 2024 ausgewählt. Es klang nach einem Buch für den Sommer, das mehr zu bieten hat als ein Abendessen in der lauen Sommerabendluft.
Worum geht es in „Ein Sommerabend“?
Es ist Sommer. Es ist heiß. Zwei Paare treffen sich zu einem Abendessen in Paris. Es hört sich nach nichts Ungewöhnlichem an. Doch ist es kein normales Treffen mit Freunden zum Essen. Für Gastgeber Étienne hat der Abend das Ziel, mithilfe von Johar, der Frau seines Freundes Rémi, einen wichtigen Mandanten zu gewinnen, um sich beruflich den Hintern zu retten.
„Das ist ein katastrophales Jahr für ihn und wird es auch bleiben, es sei denn, ihm gelingt die Akquise neuer Aufträge, auf der Stelle. Heute Abend spielt er um sein Überleben.“
– Aus „Ein Sommerabend“ von Cécile Tlili
Auch Johar hat Berufliches im Kopf. Ihr ist eine Position oder besser die Position, auf die sie seit Jahren hingearbeitet hat, angeboten worden. Sie muss sich an diesem Abend entscheiden, ob sie den Job annimmt oder nicht. Eigentlich hat sie gar kein Interesse an dem Abendessen, sie ist nur ihrem Mann Rémi zuliebe mitgekommen.
Rémi ist Lehrer und wirkt auf den ersten Blick so, als ob er der Entspannteste des Abends ist. Doch der Schein trügt. Auch er denkt über sein Leben, seine Ehe und seine Freundschaft zu Étienne nach.
„Er hatte sich des Öfteren gefragt, weshalb Étienne ihre Freundschaft nicht auf die Bänke der Universität oder die Cafés im Quartier Latin beschränkte, weshalb er ihm die Türen zu privaten Sportclubs und geschlossenen Gesellschaften öffnete. Bis Rémi begriff, dass die größte Lust am Luxus darin bestand, ihn einem Publikum vorzuführen. Der in Strömen fließende Champagner glitzerte nirgends so schön wie in Rémis naiven Augen, und nirgends hallte ein spontaner Trip nach Marrakesch so klangvoll nach wie in seinen gutgläubigen Ohren.“
– Aus „Ein Sommerabend“ von Cécile Tlili
Claudia, die Frau mit der Étienne zusammenlebt, möchte dieses Essen am liebsten gar nicht stattfinden lassen, hat aber gleichzeitig das feste Ziel, dass es perfekt wird. Sie möchte seine Aufmerksamkeit zurück.
„Claudia blickt ihrem Lebensgefährten nach, der sich, ohne sie auch nur anzusehen, zu Johar an den Kamin gesellt hat, um ihr seine Keramiken vorzuführen, und als sie Ärger gemischt mit Verzweiflung in sich aufsteigen fühlt, fragt sie sich, ob sie es jemals schaffen wird, diesen Gegensatz aufzulösen: Sie möchte sich unsichtbar machen, und doch trägt sie es allen nach, die sie nicht sehen.“
– Aus „Ein Sommerabend“ von Cécile Tlili
Der Abend nimmt seinen Lauf und nach und nach fallen die Masken und das Kartenhaus bricht zusammen.
Wie hat mir das Buch gefallen?
So vielversprechend der Titel des Buches nach einem schönen Abend mit Freunden klingt, so wenig erfüllt sich diese Vorstellung. Und das ist auch gut so, führt uns Cécile Tlili doch tief in die Gedankenwelt ihrer Figuren. Die Geschichte entwickelt sich ganz langsam und Tlili fügt nach und zieht nach und nach eine Karte heraus, bis das Kartenhaus zusammenstürzt. Eine Nachricht auf einem Handy, die gesehen wird, eine Bemerkung am Rande und eine Katastrophe, die sich im Hintergrund abspielt.
„Jahrelang war Johar das Gefühl nicht losgeworden, dass Étienne, wenn er das Wort an sie richtete, nur durch diverse Schichten von Kultur und Bildung zu ihr sprach, die zwischen ihnen lagen.“
– Aus „Ein Sommerabend“ von Cécile Tlili
Étienne, dem scheinbar alles mühelos gelingt, dem Frauen und Geld quasi schon von Geburt an zur Verfügung stehen und vor Selbst- und Klassenbewusstsein strotzt. Sein Kumpel Rémi, der sich vielleicht immer ein wenig im Schatten gefühlt hat, aber lange mit Johar glücklich war und jetzt in seiner eigenen Lebenskrise steckt. Johar, die mit marokkanischen Wurzeln ist und sich hochgearbeitet hat und genau an diesem Abend alles in Frage stellt. Zu guter Letzt ist da Claudia, das blasse Anhängsel Étiennes, zumindest sieht sie sich selbst so. Auch sie stellt sich gerade viele Fragen.
Es ist eine Situation, die aus verschiedenen Romanen oder Filmen bekannt ist. Paare treffen sich scheinbar glücklich zu einen als netten Abend geplanten Essen und im Laufe des Treffens kommt die unangenehme Wahrheit auf den Tisch. Spannenderweise ist es hier so, dass der Großteil erst einmal in den Gedanken der vier Personen stattfindet und erst später zu Konsequenzen führt. Die Fassade bekommt mit Fortschreiten des Essens immer größere Risse, der Zusammenbruch wird aber langsam in den Köpfen vorbereitet. Eine unangenehme Stimmung liegt von Anfang an auf der Veranstaltung.
Der französische Titel „Un simple dîner“ – ein einfaches Abendessen – liefert schon einen Hinweis, dass es genau das Gegenteil davon ist. Cécile Tlili seziert die Tiefen der einzelnen Protagonist*innen von Szene zu Szene, so dass sie am Ende fast kein Geheimnis mehr haben bzw. wir Lesenden fast alles wissen und verstehen, warum kommt, was am Ende kommt.
Es gelingt der Autorin nicht nur der Seelenstriptease ihrer Figuren, sondern sie malt auch ein Bild der französischen Gesellschaft. Étienne verkörpert das alte Geld, die Beziehungen, die er hat und das durch Generationen vererbte Anspruchsdenken und eine gewisse Selbstüberschätzung. Johar steht für die Migrantentochter, die den Fuß in die Tür der französischen Elite zu bekommen. Rémi ist der Vertreter des Normalos, für Étienne der Kumpel außerhalb der elitären Clique, der ihn bewundert, für Johar ein Bindeglied zur französischen Gesellschaft und Claudia ist so unglaublich schüchtern. Sie wurde nie gesehen und wünscht es sich so sehr, ihren Platz zu finden.
Sie ist diejenige, die der Geschichte noch eine besondere Note gibt, ist sie doch der Gegenentwurf zu dem lauten Étienne, der daran gewöhnt ist im Mittelpunkt zu stehen. Sie wundert sich, warum sie ihm überhaupt aufgefallen ist und fühlt sich aber gleichzeitig nicht wohl mit ihm. Es steht bei ihr ein großer Einschnitt im Leben bevor und dies hat auch auf Johar Auswirkungen. Sie ist die eigentliche Hauptperson des Buches für mich und bringt ein besonderes Momentum in die Geschichte.
„Heute ist sie nichts richtig. Sie ist eines von zu vielen Geschwistern, sie ist eine Physiotherapeutin, die nicht einmal versucht hat, Ärztin zu werden, sie ist die schweigsame Gefährtin, die Étienne auserwählt hat, um ihn zu umsorgen. Sie ist die, der man Fragen stellt, ohne wirklich ihre Antworten anzuhören, die mit der Rémi nur aus Höflichkeit oder Eigeninteresse spricht, die die schon allein bei der Erwähnung der Verantwortung auf Johars Schultern in lähmende Angst versetzt wird.“
– Aus „Ein Sommerabend“ von Cécile Tlili
Cécile Tilils Debütroman ist ein Buch, wie ich es gerne lese. Es ist kein lautes Buch, aber ein Buch, dass in die geheimen Schlupfwinkel und Empfindungen von Menschen hineinschaut. Warum sind Menschen so wie sie sind? Sie lässt tief blicken und beschreibt es treffend. Wer Kammerspiele mag, ist mit „Ein Sommerabend“ gut beraten.
Autorin: Cécile Tlili
Übersetzerin: Norma Cassau
Erscheinungsdatum: 17. Mai 2024
Verlag: Kein & Aber Verlag
ISBN: 978-3-0369-5033-4
PS: Mein Buch ist ein kostenloses Rezensionsexemplar (unbezahlte Werbung), welches mir vom Kein & Aber Verlag zur Verfügung gestellt wurde. Hierfür bedanke ich mich ganz herzlich! Ob mir ein Buch kostenlos als Leseexemplar zur Verfügung gestellt wurde, ich es geliehen, geschenkt bekommen oder selbst gekauft habe – all dies hat keinen Einfluss auf meine Rezension. Meine Rezensionen geben allein meine Meinung wieder, die ich mir während des Lesens gebildet habe.
Wenn dir dieses Buch gefallen hat, empfehle ich dir „Die Glücklichen“ von Kristine Bilkau. Auch hier geht es um die Geschichte einer Beziehung. Was macht so eine Beziehung kompliziert, wie kommt eine Beziehung mit Lebenskrisen klar. Ganz wunderbar von Kristine Bilkau beschrieben.
Falls du neugierig bist, welche Bücher Valerie und ich in der genannten Podcast-Folge noch empfehlen, ist hier der Link zur Folge Urlaubsbücher Sommer 2024.