Aktualisiert am 23. März 2025 von Antje Tomfohrde
Seitdem ich „Kanalschwimmer“ von Ulrike Draesner gelesen habe, bin ich begeistert von der Autorin und arbeite mich Buch für Buch durch ihr Werk. „zu lieben“ erzählt davon, wie sie Mutter wurde. Es ist ein ganz persönlicher Bericht von den Hürden einer Adoption und wie sich Mutterschaft entwickelt.
Worum geht es?
Das Buch startet mit der lang ersehnten Nachricht, dass es die Möglichkeit gibt, ein Kind zu adoptieren. Die Autorin und ihr Mann hatten sich nach mehreren Fehlgeburten und der Anmeldung für eine Inlandsadoption dazu entschlossen, über eine Auslandsadoption Eltern zu werden.
„Die Nachricht im Omacafé war viel zu groß gewesen für eine Stunde oder einen Tag oder eine Woche. Sie gehörte in eine eigene Kategorie, zu jenen Botschaften, Gesten und Szenen, die einem wenn man aufwacht oder unerwartet allein ist und vor sich hin denkt, gern wie neu, als weltumstürzendes Ah und Oh, als eine Explosion, ein Schlag der Erkenntnis, jedenfalls als etwas Herz und Hirn für alle Zeit Verrückendes erscheinen.“
– Aus „zu lieben“ von Ulrike Draesner
Sofort mit dieser Neuigkeit startet auch schon die Vorbereitung auf das neue Leben mit Kind. Es muss ein Zimmer vorbereitet, eingerichtet werden, die Reise geplant werden und eine prophylaktische Ausländeraufenthaltsgenehmigung für das noch nicht adoptierte Kind beantragt werden.
Dann geht es los nach Sri Lanka und der Adoptionsprozess und der Prozess des Eltern- und Mutterwerdens beginnt. Vier Wochen kommen sie bei Heidi unter, einer Frau, die auf Sri Lanka lebt und sich um zukünftige Eltern wie die Autorin und ihren Mann kümmert.
Ulrike Draesner erzählt, wie sie sich langsam dem noch unbekannten Kind, das nur das Kinderheim kennt, annähert und wie schwer es ist, einen Draht zu dem Mädchen zu bekommen. Es gibt immer wieder Rückblicke und Gedankenblitze aus der Vergangenheit und Gegenwart, die Angst des Versagens und welche Auswirkungen die Situation aufs Denken und auch auf die Beziehung zu ihrem damaligen Mann hat.
Wie hat mir „zu lieben“ gefallen?
Ein ungewöhnliches Buch, eine „wahre“ Geschichte, vielleicht kein Roman, denn das Wort „Roman“ ist durchgestrichen, wie auch viele weitere Begriffe und ganze Sätze. Es gibt vorab eine Beschreibung von „wahren“ aus dem Wörterbuch der Gebrüder Grimm. Ulrike Draesner hat das gut gewählt, ist „wahren“ ein vielseitiges Wort und kann verschieden genutzt werden. Für mich wahrt sie die Erinnerung an das Erlebnis, Mutter zu werden, sie hütet die Erinnerung daran und steigt somit schon vor Beginn des Buchs ein ins Erzählen ihrer Geschichte.
Jeder Satz hat eine Bedeutung und ist nicht nur dahinerzählt. Es gelingt ihr von Anfang an die Stimmung und Unsicherheit zu beschreiben. Wie belanglos wirkt es, dass sie von Katzenzungen und ihrer Oma erzählt und zeigt doch damit dieses typische Verhalten in einer Situation, die einen Menschen emotional komplett überfordert, eine Art Schockzustand, in dem man noch funktioniert, aber nicht immer klar denken kann als Schutzmechanismus. Sie beschreibt diesen Zwischenzustand für mich besonders gut in folgendem Zitat:
„Keine Frage, auch ohne Hormone war ich in einem hormonellen Zustand. Das Zimmer sah nun zwar hübsch aus, fröhlich mit Frosch, doch auch hilflos und leer. Ich spürte, dass ich mich vor dem, wonach ich mich seit vielen Jahren am meisten gesehnt hatte, auch am allermeisten fürchtete: dem Kind.“
– Aus „zu lieben“ von Ulrike Draesner
Was das Buch eindeutig auszeichnet – neben der Erzählkraft – ist das Teilen eines solchen Gedankens. Dieses Wünschen und gleichzeitig die Angst davor, dass es ganz anders ist als gedacht, dass man versagt, dass Kind nicht glücklich wird oder keine Bindung entsteht und was auch immer für Ängste es gibt. Ulrike Draesner legt keinen verdeckenden Schleier über ihre Gedanken, sie ist ganz direkt und teilt ihre Gefühle.
So gibt es die Momente kurz vor der Übergabe des Kindes auf Sri Lanka, wo feststeht, dass sich das Mädchen noch nicht an Ulrike Draesner gewöhnt hat und es nicht klar ist, wie es während der richterlichen Anhörung reagieren wird. Sie beschreibt auch das Gefühl des Unterlegenseins, denn Hunter, ihr Mann, scheint schon mehr von Mary akzeptiert zu werden. Als Lesende spüren wir wie es an der Autorin nagt, zumal die Zeit auf Sri Lanka das Paar nicht näher zusammen bringt.
„Ab sofort durfte Hunter Mary berühren. Hunter Marys Ersatz-große-Schwester. Hunter. Und nur Hunter. Akka-Hunter. Ich stand daneben und schaute zu.“
– Aus „zu lieben“ von Ulrike Draesner
Eine Adoption ist ein Prozess, der – wenn der Zeitpunkt da ist – eine Elternschaft im Zeitraffertempo bedeutet. Es ist eine kurze Vorbereitungszeit, auch wenn die zukünftigen Eltern sich schon viele Gedanken vorher machen, aber es ist ja immer diese Unsicherheit da, ob es eine Adoption geben wird. Und wenn dann plötzlich der Fall eintritt, geht alles holterdiepolter und das ganze Leben ist von einem Tag auf den anderen auf den Kopf gestellt. Doch wie entwickelt sich die Liebe der Eltern, in diesem Fall besonders die Mutterliebe? Der Körper bereitet nicht zehn Monate mit einer konstanten Erhöhung der Hormone vor, es ist ein etwas längerer Prozess, der gegenläufig zur Schnelligkeit der Verkündung der Nachricht und der Adoption ist.
Das Kind bringt eine Vorgeschichte mit und bei der Adoption eines Kindes, das ganz offensichtlich anders aussieht als die Eltern, kommen noch weitere Momente hinzu, mit denen das frischgebackene Elternpaar nicht gerechnet hatte. Es erkennt, dass sie bislang in der Blase der „Weißen Blindheit“ gelebt haben und entdecken jetzt „… das Deutschland der Blicke, die man abbekommt, wenn man mit einem andershautfarbigen Menschen an der Hand spazieren geht.“
Sie beschreibt, wie distanzlos und übergriffig das Kind oft einfach gefragt wird, wo es denn herkommt und dass die Großeltern überlegten, ob es denn ein wirkliches Enkelkind ist, so ein ein adoptiertes Kind. Es ist viel unbewusst zugefügter Schmerz in diesem Buch, der vielleicht denjenigen, die ihn zufügen, nicht bewusst ist. Sie beschreibt auch die Gespräche, in denen es um die Frage geht, auf die es ankommt:
„Welche Bedeutung soll Herkunft haben? Also nicht: Welche Bedeutung hat Herkunft. Sondern: Welche Bedeutung wollen wir ihr beimessen. Wie wollen wir uns die Geschichten von Elternschaften, die mehr als zwei Personen enthalten, in Zukunft erzählen?“
– Aus „zu lieben“ von Ulrike Draesner
Das Buch geht um die Adoption eines Mädchens aus einem anderen Land, aber das wäre zu einfach. Es geht darum, wie sich Mutterliebe, wie sich Elternschaft entwickelt. Wie wird man ein Elternteil, wie und wann beginnt man, sein Kind zu lieben? Woran macht man es fest? Und welche Fallstricke gibt es? Was ist mit der Bürokratie, was ist mit den Mitmenschen, was ist mit dem Päckchen Vorleben, das das Kind mitbringt? Zweifel sind immer dabei.
Ulrike Draesner beschreibt ihren Weg dorthin, ungeschönt in schönen Worten. Es ist ein gemeinsamer Weg mit dem Kind zusammen, denn auch das Kind oder besser besonders das Kind macht sich dadurch, dass es adoptiert wird, auch auf den Weg, in der Familie anzukommen und im besten Fall die Zuneigung zu erwidern, zu lieben.
„Ich erlebte das Glück, das Mutter-Kind-Gewebe wachsen zu fühlen. Mitunter, im Alltag und dem Abrieb darin (wo sind deine Sportsachen, schon wieder eine schlechte Note in Mathe, du kannst nicht dauern nur Chips essen …), vergisst man es. Doch Mary habe ich es zu verdanken, dass es diesen vollkommenen Augenblick in meinem Leben gibt: ihre Hand, die sich in meine schiebt.“
– Aus „zu lieben“ von Ulrike Draesner
Es ist kein Buch, das ich schnell gelesen habe. Zum einen gibt es diese Satzgebilde, die ich zwei-, dreimal oder noch häufiger gelesen habe und dann natürlich die Geschichte, die persönlichen Erfahrungen, das Teilen des Erlebten. Das hat ein bisschen gebraucht, um es auch zu verarbeiten und darüber nachzudenken, denn es ist schon sehr persönlich und es war nicht immer leicht, in so persönliche Bereiche hineinzulesen, zumal es auch um die Partnerschaft geht, die zerbricht. Es sind viele Gefühle und doch oder gerade deshalb ist es ein ganz wunderbares Buch über die Liebe, wie sie entsteht und wächst.
Zur Autorin:
Ulrike Draesner wurde 1962 in München geboren und wurde für ihre Romane, Essays und Gedichte vielfach ausgezeichnet. Sie erhielt den Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung und den Großen Preis des Deutschen Literaturfonds für ihr Gesamtwerk, das multimediale Arbeiten und Übersetzungen einschließt. Ihr Roman Die Verwandelten war für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. In den Jahren 2015 bis 2017 lebte sie in England. Nach verschiedenen internationalen Gastdozenturen und Poetikvorlesungen lehrt sie seit April 2018 am Deutschen Literaturinstitut Leipzig als Professorin. Sie ist Mitglied der Akademie der Künste in Berlin und der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Ulrike Draesner lebt mit ihrer Tochter in Berlin.
Autorin: Ulrike Draesner
Erscheinungsdatum: 11.09.2024
Verlag: Penguin Verlag
ISBN: 978-3-328-60341-2
PS: Mein Buch ist ein kostenloses Leseexemplar, das mir über das Bloggerportal vom Penguin Verlag zur Verfügung gestellt wurde. Hierfür bedanke ich mich ganz herzlich! Ob mir ein Buch kostenlos als Leseexemplar zur Verfügung gestellt wurde, ich es geliehen, geschenkt bekommen oder selbst gekauft habe – all dies hat keinen Einfluss auf meine Rezension. Meine Rezensionen geben allein meine Meinung wieder, die ich mir während des Lesens gebildet habe.
Mittlerweile habe ich schon mehrere Bücher von Ulrike Draesner gelesen und hier auf dem Blog findest du noch eine Rezension von mir zu „Eine Frau wird älter“. Die Autorin fasst in diesem Buch ihre Vorstellung und ihre Erfahrungen des Älterwerdens zusammen. Vielleicht ist auch das etwas für dich. „Kanalschwimmer“ fand ich auch ganz großartig, allerdings habe ich noch keine Buchbesprechung dazu geschrieben, denn noch habe ich nicht die richtigen Worte für meine Begeisterung gefunden.