The American Dream – Gratisessen für Millionäre von Min Jin Lee

Auf dem Foto ist das Buch Gratisessen für Millionäre von Min Jin Lee auf einem Holztisch liegend, von vier Tellern umgeben abgebildet. Es ist das Headerbild zur Rezension des Buchs.

Aktualisiert am 28. Juni 2025 von Antje Tomfohrde

übersetzt von Andrea Fischer

Wenn du nur hart genug dafür arbeitest, kannst du es nach ganz oben schaffen – so ist das Credo des amerikanischen Traums. Vom Erreichen dieses Traums und ob er die ganze Mühe wert ist, handelt „Gratisessen für Millionäre“ von Min Jin Lee.

Wovon handelt das Buch?

Es ist 1993 und Casey Han, Tochter koreanischer Einwanderer, lebt in Queens und stellt nach ihrem Studium an der Eliteuniversität Princeton fest, dass ein solcher Abschluss nicht automatisch die Tür zu den lukrativen Jobs der Wall Street öffnet. Auch ihren Eltern und besonders ihrem strengen Vater Joseph schmeckt das nicht und die Stimmung ist dementsprechend angespannt beim ersten gemeinsamen Abendessen der Familie seit der Abschlussfeier.

Ihre Schwester Tina ist das Gegenteil von Casey, die Musterschülerin, die sich auch an die anderen Regeln der Eltern hält. Casey ist nicht nur ohne Arbeit, wenn man von ihrem Aushilfsjob als Verkäuferin absieht, sondern ist mit einem weißen Amerikaner liiert, raucht und hat eine Vorliebe dafür, über ihre Verhältnisse zu leben. Es kommt zum Zerwürfnis und Casey muss die Wohnung ihrer Eltern verlassen.

„Ein richtiger Job“, sagte ihr Vater, „Oder Jura. Hüte verkaufen ist kein richtiger Job. Acht Dollar die Stunde zu verdienen, nachdem man eine Ausbildung im Wert von achtzigtausend Dollar absolviert hat, ist das Dümmste, was ich je gehört habe. Wozu hast du Princeton besucht, wenn du danach Haarnadeln verkaufst?“

Aus „Gratisessen für Millionäre“ von Min Jin Lee

Sie findet durch einen mehr als glücklichen Zufall Unterschlupf bei einer jungen Frau aus der koreanischen Gemeinde, bei Ella. Ella ist eine Mustertochter und steht kurz davor zu heiraten. Ihr Verlobter hilft Casey zu einem Job als Assistentin bei dem Finanzhaus, in dem auch er arbeitet. Es ist nicht gerade die Position, die sie sich gewünscht hat, hilft ihr aber, über die Runden zu kommen.

Wir begleiten Casey dabei, wie sie sich durchbeißt, ihre Kreditkarte immer wieder überzieht, es mit der Liebe versucht und ihr Ziel verfolgt. Ob sie es erreicht, verrate ich allerdings nicht.

Mein Leseeindruck

Vor ein paar Jahren habe ich „Ein einfaches Leben“ von Min Jin Lee gelesen und war begeistert von der Geschichte einer koreanischen Familie in Japan. So hat es mich gefreut, dass Mirjam (https://www.instagram.com/mirisbuecherecke/) Lust hatte, das Debüt der Autorin gemeinsam mit mir zu lesen. Es ist mit 848 Seiten ja schon ein recht langes Buch und bei manchen Büchern ist Austausch einfach besser, um Entwicklungen im Buch oder Charaktere besser einzuordnen. So war es auch bei „Gratisessen für Millionäre“. Der Austausch war sehr hilfreich und es hat sich auch mal wieder gezeigt, dass jede von uns auf andere Details achtet.

Min Jin Lee gelingt es mit dem Buch, das Aufeinanderprallen verschiedener Kulturen und auch Werte zu beschreiben. Da ist auf der einen Seite die koreanische Einwanderergemeinde in New York, die sehr darauf bedacht sind, dass ihre Kinder und auch sie selbst es in den USA schaffen, ein besseres Leben zu führen bzw. es besonders ihren Kindern ermöglichen wollen, eine oder gar mehrere Stufen in der Gesellschaft aufzusteigen. So sind Ärztin, Juristin oder Bankerin Berufe, in denen auch Caseys Eltern Joseph und Leah ihre Töchter gerne sehen möchten. Dafür legen sie sich gerne krumm und sparen jeden Cent. Doch auch innerhalb dieser Gruppe der koreanischen Einwanderer gibt es nicht nur Zusammenhalt, sondern auch Standesdünkel.

Parallel zu dem Wunsch, gesellschaftlich aufzusteigen, ist aber der Wunsch, unter sich zu bleiben, also nach Möglichkeit sollen die Töchter einen Koreaner mit den eigenen Werten heiraten und nicht einen Amerikaner. Rassismus also auf beiden Seiten – die Einwanderer aus Korea möchten den American Dream verwirklichen, aber sich nicht mit den Einheimischen vermischen.

Die Amerikaner (hier ist hauptsächlich von den Weißen die Rede, um das kurz klarzustellen) auf der anderen Seite verwechseln asiatische Einwanderer gerne mal bzw. können Japaner*innen, Koreaner*innen und Chinesinnen nicht auseinanderhalten und auch ihre Kultur ist ihnen einfach egal. Für sie zählt ihr Individualismus und nicht die Gruppe. Es ist ein guter Spiegel, den Min Jin Lee beiden Gruppen vorhält.

Hinzu kommt auch noch Sexismus, der in den 90ern auch noch einmal anders bewertet wurde bzw. mit dem in den 90ern ein anderer Umgang herrschte, was ich aus der heutigen Sicht nach #MeToo noch einmal besonders interessant finde. Es wird auch der Unterschied zwischen den Kulturen sehr deutlich, was die Rolle der Frau und die Schuldfrage angeht. Da gibt es eine sehr starke Szene zwischen Mutter und Tochter, die als Vehikel dient, um diese Differenz zu beschreiben und gleichzeitig das Band zwischen Mutter und Tochter stärkt.

Am Anfang ist es so, dass Casey recht orientierungslos ist und wirklich Glück hat, bei Ella einziehen zu können und den Job bekommt, der ihr zumindest hilft, ihre Kreditkartenrechnung im Rahmen zu halten. Es dauert eine Weile, bis Casey sich entwickelt. Sie macht viele Erfahrungen und hechelt dem American Dream hinterher, will dieses „Gratisessen für Millionäre“, eine dieser superreichen Personen werden, die gerne auch noch gratis etwas obendrauf bekommen, den Hals nicht voll genug bekommen.

Und doch hat sie von Anfang an interessante Züge, so schreibt sie jeden Tag etwas aus der Bibel in ihr Notizbuch und liest immer wieder „Middlemarch“ von George Elliot. Aufgrund dieses Buchs lernt sie einen älteren Antiquar kennen, zu dem sie eine besondere Beziehung aufbaut. Sie liebt Mode, sie hat ein Händchen dafür, sich gut zu kleiden (beides nicht gut für ihre Kreditkartenabrechnungen) und auch die Kundinnen in ihrem Nebenjob gut zu beraten.

„Kleidung hatte etwas Magisches an sich. Daran glaubte Casey fest. Sie hätte es nie gegenüber den Kommilitoninnen in einem ihrer feministischen Seminare zugegeben, doch sie fand, dass ein Kleidungsstück einen Menschen verändern, ihn buchstäblich mit einem Zauber belegen konnte.“

Aus „Gratisessen für Millionäre“ von Min Jin Lee

Irgendwann beginnt sie mit der Hutmacherei, ein Hobby, das ihr wirklich Freude bereitet und es ist nicht einfach ein Hobby, sondern ihr erstes Hobby, was zeigt, wie getrieben sie ihr ganzes bisheriges Leben war, um gute Noten zu bekommen und es nach oben zu schaffen.

„Da Jay nie zu Hause war, ihr Arbeitstag um sechs Uhr abends endete und sie an den Wochenende frei hatte, genehmigte Casey sich zum ersten Mal in ihrem Leben den Luxus eines Hobbys – sie lernte, wie man Hüte herstellte.“

Aus „Gratisessen für Millionäre“ von Jin Min Lee

Min Jin Lee lässt sich ihre Hauptfigur langsam entwickeln und würzt die Erzählung mit unerwarteten Wendungen und Humor. Casey ist keine Heilige, sondern oftmals recht opportunistisch, raucht wie ein Schlot und doch hat sie ihre Momente, sie wird von der Autorin auf keinen Sockel gehoben. Die vielen Nebenfiguren dienen als Mittel, um Caseys Entwicklung zu zeigen, auch wenn es eventuell zwei bis drei weniger hätten sein können, denn auf über 800 Seiten kann zwischendurch mal ein Charakter in Vergessenheit geraten. Es gibt verschiedene Rollen, die besetzt sind, um die Geschichte abzurunden und Caseys Weg zu erklären.

Was ich spannend fand, ist die Tatsache, dass es eine Reise in die Vergangenheit ist. 1993 war ich ungefähr so alt wie die Hauptperson, hatte gerade meine Ausbildung zur Bankkauffrau beendet, nebenbei noch den Abschluss als Fremdsprachenkorrespondentin für Englisch gemacht und mit einem BWL-Studium und Spanisch begonnen. Das heißt, ich weiß genau, wo sie gerade stand, welche Überlegungen sie hatte und trotzdem war es völlig anders.

Im Buch wird noch einmal dieser unnötige Druck beschrieben, der in den Wall Street Büros und auch hier in Beratungsunternehmen auf die jungen Mitarbeitenden ausgeübt wird. Diese fast 24-Stunden-Verfügbarkeit, das Auspressen menschlicher Arbeitskraft und Arbeiten bis zum Umfallen, um nachher ausgewählt zu werden für ein Jobangebot. Ja, die Menschen zeigen, dass sie unter Druck arbeiten können, aber zeigen sie unter diesen Bedingungen, was sie wirklich können? Dieses perfide System wird sehr gut beschrieben und vorgeführt. Man muss unwillkürlich an „Wall Street“ oder „Wolf of Wall Street“ denken.

„Es war zwei Uhr morgens, sie befand sich immer noch im Büro und wartete darauf, dass Xerox kooperierte. Wäre sie nicht so müde gewesen, hätte sie es lustig gefunden, dass ein Kopierer automatisch die Chance bekam, sich auszuruhen, die Praktikanten hingegen nicht.“

Aus „Gratisessen für Millionäre“ von Min Jin Lee

Was nicht anders war, war der Alltag in einer Welt, in der es schon E-Mails gab, aber Mobiltelefone noch nicht selbstverständlich waren, ein Pager etwas Besonderes war und man nicht 24/7 erreichbar und online war. Dieses Warten auf einen Anruf, einen Brief oder ein zufälliges Treffen und das sich darauf verlassen Können bzw. Müssen, dass Verabredungen und Termine eingehalten wurden ohne dass kurzfristig eine Nachricht geschrieben wurde. Das war spannend, noch einmal in diese Zeit zurückzureisen, das nachzufühlen und auch einer gewissen wohltuenden Langsamkeit im Vergleich zu heute nachzuspüren!

„Gratisessen für Millionäre“ ist eine ideale Vorlage für eine Netflix-Serie (oder gibt es die etwa schon?), das Buch unterhält gut, man kann der Geschichte gut folgen und überfordert intellektuell nicht, ideal geeignet als Buch für einen Urlaub, in dem es viel Lesezeit gibt. Ich mag Bücher, in denen man miterleben kann, wie die Hauptfiguren reifen und sich weiterentwickeln.

Über die Autorin:

1968 wurde Min Jin Lee in Seoul in Südkorea geboren und zog im Alter von acht Jahren mit ihrer Familie in die USA. Sie hat in Yale studiert und arbeitete vor der Veröffentlichung ihres Debütromans „Gratisessen für Millionäre“ als Anwältin. Ihr Roman „Ein einfaches Leben“ stand auf der Shortlist des National Book Award und auf allen Bestsellerlisten der USA. Sie lebt in New York.

Informationen zum Buch
Buchtitel: Gratisessen für Millionäre
Autorin: Min Jin Lee
Übersetzerin: Andrea Fischer
Erscheinungsdatum: 18.05.2023
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG
ISBN: 978-3-423-28331-1

PS: Dieses Buch ist selbst gekauft und ich kaufe Bücher am liebsten in kleinen, inhabergeführten Buchhandlungen. Bei den meisten Buchhandlungen ist es auch möglich, online zu bestellen, sie sind also auf jeden Fall eine Alternative zu den großen Online-Shops. Online bestellen und in der Buchhandlung abholen oder direkt nach Hause liefern lassen, auch eBooks können direkt bei der Buchhandlung deiner Wahl online gekauft werden. Dieses Buch habe ich in der Hohenlimburger Buchhandlung in meinem Heimatort gekauft. #SupportYourLocalBookshop

Ob mir ein Buch kostenlos als Leseexemplar zur Verfügung gestellt wurde, ich es geliehen, geschenkt bekommen oder selbst gekauft habe – all dies hat keinen Einfluss auf meine Rezension. Meine Rezensionen geben allein meine Meinung wieder, die ich mir während des Lesens gebildet habe.

Wenn du solche Familiengeschichten magst, empfehle ich dir „Der Gesang der Berge“ von Nguyễn Phan Quế Mai. Es erzählt die Geschichte einer Familie von der Kolonialzeit bis zum Vietnamkrieg. Das Buch hat mir außerordentlich gut gefallen, wusste ich doch nicht viel über die Geschichte Vietnams. Hier wird die Landesgeschichte mit der Familiengeschichte erzählt. Auch der Roman „Ein einfaches Leben“ von Min Jin Lee ist wirklich lesenswert und hat mich richtig begeistert, allerdings habe ich noch keine Rezension dazu geschrieben.

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