Die Metamorphose – Amphibium von Tyler Wetherall

Auf dem Foto ist das Buch Amphibium von Tyler Wetherall an einen Baum gelehnt fotografiert. Es ist das Header-Bild zur Rezension des Buches.

Aktualisiert am 30. Juli 2025 von Antje Tomfohrde

übersetzt von Lisa Kögeböhn

Das Leben der elfjährigen Sissy ist von Veränderungen geprägt. Weil ihre Mutter in Südwestengland einen Neuanfang machen möchte, muss sie umziehen und sieht sich mit der Rolle als Neue in der Schule konfrontiert. Parallel kümmert sie sich um ihre psychisch nicht stabile Mutter und muss mit den Herausforderungen ihrer beginnenden Pubertät klar kommen.

Worum geht es in „Amphibium“?

Von klein auf ist Sissy daran gewöhnt, dass sie sich nicht nur um sich, sondern auch um ihre alleinerziehende Mutter Mou, die immer wieder depressive Phasen hat, kümmern muss. Das ist auch so, als sie nach Südwestengland ziehen. Sissy ist in einer neuen Schule, sie ist die Neue und muss sich dort erst einmal ihren Platz erkämpfen und eine Freundin finden, was gar nicht so leicht ist.

Sie erkämpft sich im wahrsten Sinne eine Freundin, Tegan, in dem sie sich vor deren Augen mit einem Jungen prügelt und so Tegans Respekt erlangt. Tegan ist das coolste Mädchen der Klasse, schon 12 und sie hat ein gewisses Standing, sie hält Hof und entscheidet, wer angesagt ist. Sie freunden sich an und treffen sich nach der Schule, um gemeinsam bei Tegans Schwester Haley abzuhängen. Für Sissy ist es die Erfüllung eines langehegten Wunsches, eine solche Freundin zu haben, mit der sie gemeinsam allem trotzen und gemeinsam die Pubertät durchstehen kann.

„Es ist gefährlich, etwas zu wollen, bei dem die Hoffnung besteht, dass man es bekommt. Lieber sollte man Dinge wollen, die weit weg und hoffnungslos sind.“

Aus „Amphibium“ von Tyler Wetherall

Das Leben plätschert so vor sich hin, Sissy und Tegan sind unzertrennlich, entwickeln ihre eigene kleine Gedankenwelt und entdecken gemeinsam das Aufkeimen ihrer Weiblichkeit, Sissys Mutter geht es besser und dann verschiebt sich plötzlich etwas im Äußeren und im Inneren: es verschwinden Mädchen und Tegan geht immer noch einen Schritt weiter bei ihrem Ritt auf der Rasierklinge.

„Langsam atme ich aus und sinke tiefer, die harten Knubbel meiner Wirbelsäule stoßen gegen den Wannenboden. Am Ende dieser Geschichte werde ich mich verwandelt haben, in etwas Anderes, etwas Grauenvolles. Soll heißen: etwas voll des Grauens.“

Aus „Amphibium“ von Tyler Wetherall

Wie hat mir das Buch gefallen?

Bei „Amphibium“ haben mich gleich mehrere Dinge gereizt: es spielt im England der Neunziger, es ist ein Debütroman und es versprach eine außergewöhnliche Coming-of-Age Geschichte zu sein. Sissy und ihre Mutter haben in ihrer Beziehung die Rollen getauscht. Es ist die Tochter, die auf ihre Mutter achtet und nicht umgekehrt. Eine große Belastung für ein junges Mädchen, das selbst gerade in eine wichtige Lebensphase eintritt.

„Es ist September, das neue Schuljahr hat angefangen, und ich bin die Neue. Das heißt, ich bin seltsam, bis ich das Gegenteil beweise, aber das werde ich nicht tun. Wir sind aus Gründen, die ich nicht ganz verstehe, von London in den Südwesten, ins West Country, gezogen.“

Aus „Amphibium“ von Tyler Wetherall

Sissy ist ein schlaues Mädchen, sie beobachtet gut und hat ihren eigen Kopf, in dem ziemlich viele Gedanken unterwegs sind. Sie möchte eine Freundin und schafft es, sich das begehrteste Mädchen der Klasse zu angeln, in dem sie anders ist und Tegan nicht anhimmelt, sondern dadurch interessant ist, dass sie anders ist als die Fangirls. Doch es ist keine Freundschaft auf Augenhöhe und es schwebt von Anfang an ein Damoklesschwert über dieser Beziehung.

„Sie streckt mir den kleinen Finger entgegen, und ich hake meinen unter, ein Fingerschwur, einer von vielen. Langsam verliere ich den Überblick, was ich als Bedingung für diese Freundschaft alles geschworen habe zu tun oder nicht zu tun.“

Aus „Amphibium“ von Tyler Wetherall

Tegan ist schon zwölf, hängt oft bei ihrer großen Schwester Haley ab und hat einige Geheimnisse, ist nicht ganz greifbar. Sie möchte so schnell wie möglich erwachsen werden und kann es nicht erwarten, zur Frau zu werden, wohingegen Sissy noch nicht bereit für ihre Verwandlung ist.

„Unsere Freundschaft wird nicht laut ausgesprochen, sondern bleibt zwischen uns, wie ein Geheimnis. Sie ist der Zettel in der Spieluhr. Verborgen, aber trotzdem da.“

Aus „Amphibium“ von Tyler Wetherall

Beide Mädchen sind geprägt durch das, was sie schon erlebt haben und durch die Beziehung zu ihren Eltern (wie natürlich wir alle). Sissy hat trotz allem einen Halt, ein Urvertrauen mitbekommen, das sie trägt, während es bei Tegan anders ist. Man merkt es bei jedem Wort, das Sissy über sie erzählt. Tegan wirkt auf mich wie jemand, der immer auf den nächsten Adrenalinstoß aus ist, um sich selbst zu spüren, die dafür auch bereit ist, jedes Risiko einzugehen.

„Doch Tegan wird keine Antwort geben. Ich kann es spüren. Es gibt eine Seite von ihr, die tabu für mich ist.“

Aus „Amphibium“ von Tyler Wetherall

So gut sich die beiden auf der einen Seite tun, so schlecht ist die Beziehung durch dieses Ungleichgewicht, das von Anfang an besteht und ich möchte auch nicht spoilern, deshalb werde ich das nicht genauer ausführen. Nur soviel sei noch gesagt, es kommt durch das Verschwinden einiger Mädchen aus dem Landkreis noch eine weitere bedrohliche Komponenten hinzu, die wie ein Katalysator wirkt.

Tyler Wetherall ist mit „Amphibium“ ein grandioses Debüt gelungen, das sehr einfühlsam die Geschichte von Sissy, ihrer Mutter Mou und von ihrer Freundschaft zu Tegan erzählt. Es ist keine lustige Geschichte, auch wenn es durchaus einige leichte Momente gibt. Von Anfang an ist klar, dass es keine einfache Metamorphose wird, die Sissy, aber auch Tegan durchmachen wird. Verstärkt wird es durch das Einweben von klassischen Sagen oder Märchen wie dem der Kleinen Meerjungfrau, deren Geschichte mehr als tragisch endet, weil sie nicht zurück geliebt wurde. Immer wieder gibt es diese Bezüge und fantastischen Abschnitte. Der Zauber, der nur wirkt, wenn etwas geopfert wird.

„In der Badewanne bin ich kaum wiederzuerkennen. Meine Knopfbrüste sehen noch fast genauso aus wie zuvor, aber die Häute zwischen den Zehen sind dicker geworden, und ich genau hinschaue, habe ich an einigen Stellen dünne Schuppen statt Haut. Jetzt lässt es sich nicht mehr leugnen: Andere Mädchen werden zur Frau; ich werde zum Amphibium. Ich wurde nicht richtig oder rechtzeitig oder vom Richtigen geliebt.“

Aus „Amphibium“ von Tyler Wetherall

Was mir besonders gut gefallen hat, ist die Tatsache, dass die Autorin auch den Müttern Raum gibt und zwar mit all dem Guten und mit den Dämonen, von denen beide Frauen begleitet werden. Wir erfahren viel zu den Hintergründen und wie sie wurden, wie sie sind und können so verstehen, warum die Töchter sich so entwickelten. Auch weitere Nebenpersonen werden ausreichend beschrieben, um ihrer Rolle entsprechend ausgeschmückt zu sein und uns Leser*innen die Informationen gibt, um das Gesamtbild zu erstellen.

Sissy ist mir als Figur sehr ans Herz gewachsen während des Lesens. Wie sie es geschafft hat, für ihre Mutter zu sorgen und sich dabei nicht selbst komplett verloren hat, ist eine große Leistung. Zwischen Mou und ihr ist eine ganz tiefe, enge Beziehung, die durch viel Liebe geprägt ist.

„Meistens sind Mou und ich ein Team, nur wir zwei, und das macht es besonders. Sie kann die Hand auf meine Brust legen und weiß, wie es mir geht. Aber manchmal weint Mou spätabends am Küchentisch und sagt: „Ich weiß nicht, wie ich das alles schaffen soll.““

Aus „Amphibium“ von Tyler Wetherall

Sissy hat nicht nur viel Verantwortung übernehmen müssen, sondern von ihrer Mutter auch einiges an Schönem gelernt und viel Liebe bekommen, nur leider waren die depressiven Phasen der Mutter für das Mädchen auch Phasen des Alleinseins und sich abgewiesen und überlastet Fühlens. Für ein elfjähriges Mädchen ist ihr viel zu viel aufgelastet worden und doch gelingt es Tyler Wetherall, die Mutter nicht als böse Figur dastehen zu lassen, auch wenn Sissy eine berechtigte große Wut verspürt.

„Sie soll morgens aufwachen wie alle anderen Mütter, zur Arbeit gehen und mich nicht in der Schule vergessen. Ich bin aber auch sauer, weil ich ein schlechtes Gewissen habe: Ich habe meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass sie nicht traurig ist, schleifen lassen, weil ich immer bei Tegan bin, und vielleicht hat sie mich mitten in der Nacht geweckt, um mich daran zu erinnern.“

Aus „Amphibium“ von Tyler Wetherall

Beide Mädchen haben also schon einiges erlebt und gehen jeweils anders damit um. Bei beiden hat es viel damit zu tun, wie sie gesehen werden wollen, ob sie gesehen werden und was sie erwarten vom Leben, was ihnen wichtig ist. Sissy ist sehr reflektiert und sieht nicht nur die kommende Erfahrung einer Liebesbeziehung, sondern auch die Gefahr, die darin liegen kann, zu früh von jemandem geliebt oder begehrt zu werden.

Zusätzlich zu den Einschüben aus der Märchenwelt und der Mythologie tun die Namen der einzelnen Abschnitte und die Kapitelnamen ihr Übriges, um den Verlauf der Erzählung zu verstehen und gleichzeitig zu Verstärken, so beginnt es mit der Vorbereitung, geht zur Reinigung, von dort zur Trennung und zum Übergang bis es zur Wiedergeburt kommt – ein Kreis, der sich schließt und alle verändert aus der Erzählung entlässt.

„Amphibium“ ist auf verschiedenen Ebenen interessant zu lesen. Es hat mich mitfühlen lassen, dieses Gefühl des Unfertigseins eines Teenagers und auch die Elternperspektive sehen lassen. Auch sprachlich hat Tyler Wetherall überzeugt, da sie es geschafft hat vom Fantastischen wieder ins Alltägliche zu finden und diese Sprünge so geschafft hat, dass ich beim Lesen nicht woanders gelandet bin als sie. Es war schlüssig und es war auch der Zeit, in der es spielte, angemessen. Da gab es keinen Moment beim Lesen, wo ich dachte, dass es nicht in den Neunzigern ist, was auf jeden Fall auch ein Verdienst der Übersetzerin ist, da die richtigen Worte im Deutschen zu finden und die der Zeit angemessenen Ausdrücke zu finden.

Zwei Mädchen auf der Suche nach Freundschaft, nach Liebe, Stabilität – verwirrt durch das Leben und das Hormonchaos in ihren Körpern. Wir schauen ihnen beim Lesen dabei zu, wie sie einen ersten großen Schritt ins Erwachsenenleben machen.

„Amphibium“ ist ein gelungenes Debüt.

Über die Autorin:

Tyler Wetherall ist Autorin, freie Journalistin und Drehbuchautorin. „Amphibium“ ist ihr Debütroman und in ihrem Memoir „No Way Home“, dessen Verfilmung in Arbeit ist, erzählt sie von ihrer Kindheit, die durch viele Umzüge geprägt war, da ihr Vater ständig auf der Flucht war. Die Erzählung wurde mit einem Literaturpreis des Arts Council England ausgezeichnet. Sie lebt mit ihrem Mann in New York.

Informationen zum Buch
Buchtitel: Amphibium
Autorin: Tyler Wetherall
Übersetzerin: Lisa Kögeböhn
Erscheinungsdatum: 12.06.2025
Verlag: dtv
ISBN: 978-3-423-28456-1

PS: Dieses Buch ist selbst gekauft und ich kaufe Bücher am liebsten in kleinen, inhabergeführten Buchhandlungen. Bei den meisten Buchhandlungen ist es auch möglich, online zu bestellen, sie sind also auf jeden Fall eine Alternative zu den großen Online-Shops. Online bestellen und in der Buchhandlung abholen oder direkt nach Hause liefern lassen, auch eBooks können direkt bei der Buchhandlung deiner Wahl online gekauft werden. Dieses Buch habe ich in der Hohenlimburger Buchhandlung in meinem Heimatort gekauft. #SupportYourLocalBookshop

Ob mir ein Buch kostenlos als Leseexemplar zur Verfügung gestellt wurde, ich es geliehen, geschenkt bekommen oder selbst gekauft habe – all dies hat keinen Einfluss auf meine Rezension. Meine Rezensionen geben allein meine Meinung wieder, die ich mir während des Lesens gebildet habe.

Wenn dir Coming-of-Age-Geschichten wie „Amphibium“ gefallen, könnten „Nur vom Weltraum aus ist die Erde blau“ von Björn Stephan oder „Am Tag des Weltuntergangs verschlang der Wolf die Sonne“ von Sina Scherzant auch etwas für dich sein.

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