Aktualisiert am 15. November 2025 von Antje Tomfohrde
übersetzt von Maximilian Murmann
Mit der estnischen oder überhaupt der baltischen Literatur hatte ich mich bislang noch nicht beschäftigt. Da kam „Schnittlinie“ von Carolina Pihelgas genau zum richtigen Augenblick, um dies zu ändern.
Worum geht es in dem Buch?
Liine hat sich aus einer schwierigen 14-jährigen Beziehung gelöst und sich in ein Landhaus ihrer Familie zurückgezogen, um dort wieder zu sich selbst zu finden. Das alte Bauernhaus liegt in der Nähe eines Truppenübungsplatzes, dessen geplante Vergrößerung wie ein Damoklesschwert über dem ganzen Ort liegt. Auch sorgt er für eine unangenehme Geräuschkulisse.
Liine fühlt sich in diesem Haus wohl, hat sie doch in ihrer Kindheit viel Zeit dort verbracht.
„Wenn alles schweigt, wenn die Gewehre nicht rattern, ist es der schönste Ort der Welt.“
Aus „Schnittlinie“ von Carolina Pihelgas
Sie verarbeitet in diesem Sommer nicht nur die schwierige Liebesbeziehung, sondern ihr bisheriges Leben im Ganzen und reist in ihr Inneres und in die Geschichte des Hauses und der Menschen, die in ihm gelebt haben.
Wie hat mir „Schnittlinie“ gefallen?
Ein außergewöhnliches Buch, das es schafft, eine solch komplexe Innenschau auf nur 133 Seiten darzustellen. Außergewöhnlich auch aufgrund der Erzählart, sehr dicht, präzise und doch poetisch, kein Wort zu viel und doch sehr tief und gerade deshalb entfaltet es eine große Wirkung.
„Ich bewege mich auf einer Schnittlinie, die das bisherige Leben von dem trennt, was noch kommt. Ich neige ein wenig zu dem einen, dann wieder zu dem anderen, aber die Schnittlinie muss mir etwas Raum geben. Ein paar Tage, Wochen oder Monate, damit ich mich sammeln kann. Und dann mit einem schnellen und kraftvollen Zug, wusch!„
Aus „Schnittlinie“ von Carolina Pihelgas
Liine seziert ihr Leben, trägt eine Schicht nach der anderen ab und kommt immer näher an den Kern, an ihren Kern. Man spürt die Verzweiflung, die Selbstzweifel, die Verletzungen und auch ihre Einsamkeit, die sie schon ein ganzes Leben begleitet und tief sitzt.
„Allein war ich als Kind und war ich mit dir. Aber diese Einsamkeit, mit der ich mein ganzes Leben zugebracht habe, unterschied sich von der gegenwärtigen in vielerlei Hinsicht – meine jetzige Einsamkeit ist etwas leichter, in ihr steckt ein Wunsch nach Verbindung, sie ist kein Versuch, es dir recht zu machen, ist keiner deiner bohrenden Sätze oder fordernden Untertöne.“
Aus „Schnittlinie“ von Carolina Pihelgas
Am Anfang beschreibt sie, dass sie die Schubladen des Küchentischs öffnet, um zu schauen, was sich noch dort findet, denn „im Laufe der Zeit hat sich eine Menge angesammelt“. Genau so kam es mir beim Lesen vor. Sie öffnet eine Lade nach der anderen und auch die Beschäftigung mit der Geschichte der vorhergehenden Bewohner*innen ist eine weitere Beschreibung von Liines Weg zu sich selbst.
Der Besuch ihrer Mutter öffnet noch einmal eine andere Schublade, es zeigt, dass es auch in dieser Beziehung Unausgesprochenes gibt. Die Wut, die in Liine auflodert, wirkt wie ein Katalysator, der die alten Wunden aufbricht und Heilung möglich macht.
„Ich bin wie ein unbekannter Kontinent, wo alles bereits existiert, wo es uralte Trampelpfade gibt. Aber die Entdecker, die mit Schiffen kamen, haben den Flüssen, Seen und Bergen Namen gegeben, die überhaupt nicht zu ihnen passen, sie haben mich mit ihrer Sprache infiziert, kolonisiert. Ich muss zurück zum Anfang, muss meinen eigenen Blick wiederfinden, deine Urteile auskotzen.“
Aus „Schnittlinie“ von Carolina Pihelgas
Zwischendurch textet sie immer wieder mit jemandem, reflektiert und bekommt dadurch auch noch einmal Input von außen. Sie macht alles also nicht komplett mit sich selbst aus, sondern festigt Verbindungen, die ihr wichtig sind. Auch für uns Lesende ist ein anderer Einblick in Liines Leben und ihre Beziehungen zu anderen. Allerdings gibt es auch immer wieder Nachrichten, die sie verunsichern und zu Selbstzweifeln führen. Um darüber hinweg zu kommen, hilft ihr auch das Lesen der Briefe der früheren Hausbewohner*innen und das Überlegen, welches Leben sie geführt haben.
Die Tage im Haus, in der Natur, die Zeit für sich hilft ihr und beim Lesen merkt man, dass es besser wird, auch wenn es erst einmal nur eine zarte Pflanze ist, die da heranwächst.
„Ich möchte mich entlang der Schnittlinie bewegen, durch Ängste und Zweifel hindurchlaufen – mein Körper ist eine Klinge, die sie zerschneidet. Ich habe in einer engen Schachtel gelebt, die überall drückte. Wie sehr ich diese Schachtel gewohnt war, wie gut ich ihre Wände kannte, wie sicher ich mir ihre Einschränkungen und ihren Charakter angeeignet habe.“
Aus „Schnittlinie“ von Carolina Pihelgas
Es ist ein Buch, das mich aus ganz leise Art in sich hineingezogen hat, etwas, das ich ganz besonders mag bei Büchern und ich wünsche mir, noch mehr von Carolina Pihelgas in Zukunft lesen zu können.
Über die Autorin:
Carolina Pihelgas ist 1986 in Tallinn geboren worden und studierte an der Universität Tartu Theologie. Sie ist Schriftstellerin, Übersetzerin, Herausgeberin und Redakteurin der estnischen Literaturzeitschrift „Looming“. Sieben Gedichtbände hat sie veröffentlicht, „Schnittlinie“ ist ihr zweiter Roman. Ihre Gedichte wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt.
Die Autorin erhielt im Jahr 2020 den Literaturpreis des Estnischen Kulturkapitals, die wichtigste literarische Auszeichnung Estlands. 2025 wurde sie mit dem erstmals verliehenen Estnischen Frauenliteraturpreis ausgezeichnet.
Über den Übersetzer:
Maximilian Murmann wurde 1987 geboren und ist Übersetzer und Sprachwissenschaftler. Er übersetzt aus dem Finnischen, Estnischen und Englischen ins Deutsche. 2025 war er für den Übersetzerpreis des Estnischen Kulturkapitals nominiert. Er lebt mit seiner Familie in München
Autorin: Carolina Pihelgas
Übersetzer: Maximilian Murmann
Erscheinungsdatum: 20.08.2025
Verlag: Weidle Verlag
ISBN: 978-3-8353-7598-7
PS: Mein Buch ist ein kostenloses Leseexemplar, das mir über den Wallstein Verlag vom Weidle Verlag zur Verfügung gestellt wurde. Hierfür bedanke ich mich herzlich! Ob mir ein Buch kostenlos als Leseexemplar zur Verfügung gestellt wurde, ich es geliehen, geschenkt bekommen oder selbst gekauft habe – all dies hat keinen Einfluss auf meine Rezension. Meine Rezensionen geben allein meine Meinung wieder, die ich mir während des Lesens gebildet habe.
Ein Buch, das dir auch gefallen könnte, ist „Kirschholz und alte Gefühle“ von Marica Bodrožić. Auch in diesem Buch wird unter anderem eine Liebesbeziehung gedanklich verarbeitet. Auch „bleib bei mir“ von Hanne Ørstavik fällt mir dazu ein. Beide Bücher gehen sehr in die Tiefe und bleiben nicht an der Oberfläche.
